Wenn guten Menschen Böses widerfährt

Wenn guten Menschen Böses widerfährt ist der Titel eines Buches, das ich vor geraumer Zeit durchgelesen, nein ich sollte wohl sagen: verschlungen habe. Ein befreundeter Pastor hat es mir empfohlen. Der Autor ist Harold Kushner, ein Rabbiner in einer Vorstadtgemeinde mit 600 Familien oder etwa 2500 Mitgliedern in Boston, USA.

Dieser jüdische Geistliche hat dieses Buch geschrieben, um über seine Verarbeitung eines schweren Schicksalsschlages zum einen Rechenschaft abzulegen, zum anderen Betroffenen Trost zu spenden und einen Weg aufzuzeigen, trotz eines solchen Erlebnisses den Glauben an Gott nicht zu verlieren.

In eindrucksvollen Worten berichtet er, wie er die Diagnose seines kleinen Sohnes Aaron aufnahm: Dieser litt unter Progerie, dem vorzeitigen Altern, was, wie auch im Falle Aarons, die Lebenserwartung auf etwa zwölf Jahre verkürzt. Neben diesem selbst erlebten Leid schildert der Rabbiner viele andere ähnlich bedrückende Begebenheiten, mit denen er als Geistlicher in seiner Gemeinde konfrontiert wurde. All diese Berichte haben mich sehr ergriffen, ich will sie trotzdem hier nicht wiedergeben — so etwas steht nur dem Autor zu, der sie selbst erlebte. Die für mich sehr überraschende Schlussfolgerung in diesem Buch kann auch in der dort ebenfalls angeführten biblischen Geschichte Hiobs erörtert werden. Ich will zunächst diese Geschichte kurz wiedergeben:

Hiob war der Prototyp eines guten, soll hier vor allem heißen: gottesfürchtigen Menschen. Er lebte in Freuden, sehr reich, in einer großen intakten Familie, bei bester Gesundheit und auch sonst ohne Sorgen. Gott erfreute sich dieses Mannes, Satan aber wandte ein, dass es für Hiob kein besonderes Verdienst sei, gottesfürchtig zu leben, wurde er doch derart gut behandelt. Gott und Satan schlossen darauf eine Art Wette ab, wie sich Hiob wohl verhalten werde, wenn tiefes Unglück über ihn käme.
In der Tat: Gott nahm Hiob seine Reichtümer, tötete seine Kinder und quälte ihn mit Krankheit. Drei Freunde kamen zu Hiob, um ihn in zu trösten. Diese vertraten hierbei die traditionelle theologische Auffassung, dass "dem Gerechten nichts Böses widerfahren kann". Hiob akzeptierte das nicht, war er doch ein guter Mann, zumindest nicht schlechter, als viele, denen es weit besser ging. Er stritt mit seinen Freunden und haderte mit Gott. Dieser erschien und führte Hiob dessen begrenzten Horizont vor Augen. Hiob nahm daraufhin seine Anklage zurück. (1)

Soweit die Geschichte. Kushner nun ist durch sie höchst beunruhigt und stellt zunächst einmal drei Thesen auf:

  1. Gott ist allmächtig und bewirkt alles, was auf dieser Welt geschieht. Nichts kann ohne seinen Willen geschehen.
  2. Gott ist gerecht und gütig und teilt den Menschen das zu, was sie verdienen, so dass es guten Menschen wohl ergeht und Gottlose bestraft werden.
  3. Hiob ist ein guter Mensch.

Diese Thesen können nicht alle richtig sein. Hiobs Freunde wagen nicht, These A oder B anzuzweifeln, vertraten also die Auffassung, dass Hiob wohl ein schlechter Mensch sein müsse. Kushner betont sehr zu Recht, dass dieses die traditionelle theologische Auffassung ist. (2) Er schreibt weiter, dass diese Haltung auch sonst ausgesprochen beliebt ist:

Das Opfer wird getadelt, damit das Böse nicht ganz so bedrohlich und unverständlich bleibt. […] Über das Opfer herzufallen ist eine beliebte Methode, um sich selbst zu versichern, dass die Welt gar nicht so schlecht ist, wie es scheint, dass es gute Gründe für das Leid mancher Menschen gibt. So verfuhren auch Hiobs Freunde; sie lösten damit wohl ihr Problem, nicht aber das Hiobs.

Wenn nun Hiob ein guter Mensch ist, so muss wohl die These A oder B falsch sein. Kushner verwirft die Möglichkeit, dass B falsch wäre, hält somit Gott für gerecht und gütig. Er hält die These A für falsch. Für ihn ist Gott nicht allmächtig. Schlechtes, was guten Menschen widerfährt, ist damit von Gott nicht gewollt. Dieses Schlechte entspringt den Naturgesetzen, ist mitunter einfach sinnloser Zufall.

Hier will ich zunächst mit der Wiedergabe dieses höchst beeindruckenden Buches innehalten und einige Anmerkungen dazu machen:

Schon der Titel beschreibt ein Problem, mit dem sich wohl alle Juden, Christen und Anhänger ähnlich strukturierter Religionen herumschlagen müssen (Theodizee). Es ist ungewöhnlich mutig von diesem Rabbiner, hier Stellung zu beziehen — er kommt auch zu ungewöhnlichen Ergebnissen, wie ich sie kaum von einem Anhänger einer monotheistischen Religion vermutet hätte. Andere Religionsauffassungen tun sich hier leichter: So kann ein widriges Schicksal durch rivalisierende Götter gesendet werden, nachzulesen etwa in der Odyssee. Es ist auch ein furchtbarer Gott denkbar, der die Menschen quält, um sie bei der Stange zu halten. Diese Vorstellungen sind im Unglück leichter zu ertragen, als die herkömmliche christliche: Statt zu trösten stößt sie den Unglücklichen noch tiefer in das Leid. Nicht genug, dass solch ein Mensch von widrigen Umständen geschlagen wird — es wird ihm auch noch eingeredet, dass er dieses Schicksal verdiene, da er schlecht sei.

Es ist lohnend, dieses Problem unter dem Gesichtspunkt des dhamma, der buddhistischen Lehre, zu untersuchen. Hier ist zunächst einmal festzustellen, dass es es im Buddhismus keine Götter gibt, die in oben beschriebener Weise das Geschick der Menschen steuern. Es gibt somit kein gottgewolltes Schicksal (3). Hier ist sicherlich eine Parallele zur Auffassung Kushners zu erkennen. Der Buddhismus bezieht hier eindeutig Stellung und zwar im Sinne der Lehre vom kamma (4): Die Situation, in der wir uns befinden, ist Resultat unserer früheren Taten. Dieses Resultat ist nicht etwa als Strafe, sondern als natürliche Folge zu verstehen, wie etwa verbrannte Finger, wenn ich eine heiße Herdplatte anfasse. Auch in dem Verweis auf die Naturgesetze sehe ich eine Annäherung zu Kushner.

Die Ermahnung Kushners, nicht über das Opfer herzufallen muss hier zu denken geben: Macht nicht die Lehre vom kamma genau das — nach dem Motto: Du bist selber schuld! Warum hast Du nicht besseres kamma erworben, sei es nun in diesem oder in einem früheren Leben? Diese Bedenken sind angebracht und treffen sicherlich bei manch einer kamma-Interpretation genau ins Schwarze.

Ich denke, es schadet nicht, die Überlegungen Kushners auch für die kamma-Lehre zu erwägen. Sicherlich ist bei Unglücksfällen der Verweis auf frühere Taten oft richtig. Vieles wird durch mich selbst angerichtet. Diese Erkenntnis hält von resignierendem und untätigem Jammern ab und motiviert zu Besserung.
Verliert denn die Lehre vom kamma ihre Glaubwürdigkeit, wenn daneben auch blinder Zufall akzeptiert wird, Umstände, für die niemand verantwortlich ist? Ich meine, dass dem nicht so ist. Leider hat ein jeder Mensch überreichlich Gelegenheit und Veranlassung, tatsächlich nachvollziehbare Zusammenhänge zwischen unerfreulichen Situationen und früherem Fehlverhalten sich zu vergegenwärtigen. (5)

Der Hauptwert der Lehre vom kamma liegt für mich aber nicht in der Erklärung jetziger Zustände, sondern in der Perspektive auf die Zukunft. Es ist wichtig, dass ich mir immer wieder klar mache, dass mein jetziges Handeln meine Zukunft bestimmt. Hierbei ist es nicht wesentlich, dass ich in Analogie zum Zuvorgesagten glückliche Umstände nicht erzwingen kann. Ich kann jedoch weitgehenden Einfluss nehmen.

Indem ich besonderen Wert auf den Zukunftsaspekt des kamma lege, also nicht nur frage Warum? sondern mich konzentriere auf Was ist jetzt zu tun?;, treffe ich mich wieder mit Kushner. Dieser schreibt:

Die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet aber nicht: Warum geschah mir das? Was habe ich getan, um so etwas zu verdienen? […] Besser wäre es, zu fragen: Was kann ich, da mir solches widerfahren ist, jetzt tun?

Die Kraft, eine solche Haltung einzunehmen, findet Kushner im Gebet, in der Zwiesprache mit dem zuvor als nicht allmächtig erkannten Gott also. Er erkennt freilich, dass viele der Bitten, die in Gebeten häufig vorgebracht werden, nicht erfüllt werden:

Der Talmud […] gibt Beispiele von schlechten, ungeeigneten Gebeten, die wir nicht beten sollen. […] Wir [können] von Gott nicht verlangen, dass Er Naturgesetze zu unseren Gunsten ändert, dass Er ungünstige Voraussetzungen weniger ungünstig macht oder den unerbittlichen Verlauf einer Krankheit ändert. […] Wir können Gott nicht um etwas bitten, was wir selbst erreichen können.

Nun stellt sich die Frage, was darf man sich denn mit Aussicht auf Erfüllung erbitten? Kushner führt hierzu das Gebet eines zeitgenossenschaftlichen Theologen, Jack Riemer, an:

[…] Statt dessen bitten wir Dich, o Gott, um Stärke, Entschlossenheit und Willenskraft, dass wir handeln, anstatt zu beten, dass wir stark werden, anstatt nur Wünsche zu äußern.

Dieses Gebet gibt zu denken: Handeln, anstatt zu beten ist in der Tat eine Aufforderung, die ich voll unterschreiben kann. Sie scheint das Gebet ad absurdum zu führen, zumindest zeugt sie aber von einer unorthodoxen Auffassung zum Thema Gebet.

Kushner muss sich fragen lassen, wie viel Macht Gott denn hat, wenn er nicht allmächtig ist, ob er überhaupt etwas bewirken kann, schließlich, ob die Annahme Gottes sinnvoll ist. Ich verstehe Kushner so, dass Gott uns befähigt, unsere eigenen Kräfte zu nutzen, um uns selbst zu helfen, nach dem modifizierten Motto: Hilf Dir selbst und stell Dir vor, es war Gott. Dieses klingt hämisch, ist aber nicht so gemeint. Wenn jemand in seiner Vorstellung von Gott in schwierigen Situationen echte Hilfe findet, so ist das im wörtlichen Sinne wunderbar. Mit echter Hilfe meine ich freilich nicht das zusätzlich traumatisierende Bild von einem allmächtigen Gott, der die verdiente Strafe austeilt.

Für mich selbst ist der dhamma, die Lehre Buddhas, einleuchtender. Auch dieser mobilisiert Kräfte, um das Dasein zu ertragen. Diese Kräfte beruhen aber nicht auf einem für mich hochproblematischen Gott (sei er nun allmächtig oder nicht), sondern auf einer klaren Analyse des Daseins und dem entsprechenden logischen Folgerungen. Einsicht hat für mich weit höheren Stellenwert als Glauben.

Es sei abschließend aber offen ausgesprochen: Ich befinde mich jetzt in der Situation des Hiob vor seinen Prüfungen. Es fragt sich sehr, wie tragfähig meine jetzigen Überzeugungen sind, sollte sich das grundlegend ändern.

Fußnoten:

1 Es kommt schließlich zum Happy End: Gott verhilft Hiob auf seine Reue hin wieder zu Glück und Wohlstand, tadelt aber dessen Freunde, die mit ihm gestritten hatten. Dieses Ende aber ist hier unwesentlich, wird auch in Kushners Buch nicht erwähnt, geht es doch um die Tatsache, dass guten Menschen Böses widerfährt.
Mit dem Thema Hiob habe ich mich an anderer Stelle ausführlich auseinandergesetzt.
2 Am unbarmherzigsten dokumentiert sich diese Auffassung in dem unsäglichen Dogma von der Erbsünde, welches ich für eine der besonders schlimmen Verirrungen des Christentums halte.
3 Schicksal ist ein höchst irreführender Begriff. Mein erster buddhistischer Lehrer hat deswegen das WortSchaffsal verwendet.
4 Die buddhistische Terminologie habe ich in einer speziellen Page erläutert.
5 Das alles gilt freilich auch mit umgekehrtem Vorzeichen!
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