Leere

Der Begriff Leere (sanskrit: sunyata, pali: sunnata, japanisch: ku) ist einer der besonders schwer zu verstehenden Begriffe des Buddhismus – wenn nicht der am wenigsten zugängliche überhaupt. In seinem Aufsatz Die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit im Zen-Buddhismus zitiert mein Freund Nobu Hirata:

Das Wesen der Wahrheit ist
weder formhaft noch formlos,
weder nicht-formhaft noch nicht-formlos,
weder formhaft und formlos zugleich,
weder gleich-formhaft noch verschieden-formhaft,
weder gleich-formhaft noch verschieden-formhaft zugleich.

Dieser Ausspruch (1) ist so nicht zu begreifen und hat somit den paradoxen Charakter eines Koans (2). Es scheint mir wenig aussichtsreich, über die Häufung solcher Koans zu tieferen Einsichten zu kommen (wenngleich auch sehr umfangreiche Koan-Sammlungen bestehen). Diese Texte mögen dem, dem es gelungen ist, das analytische Denken zu transzendieren, unmittelbar einleuchten. Wem diese Fähigkeit aber nicht gegeben ist, der kann sich mit hundert derartigen Paradoxa abmühen – er wird nicht weiter kommen. Es ist daher nur bedingt hilfreich, wenn Nobu dann in eigenen Worten fortfährt:

Die Wahrheit gehört weder zum Sein noch zum Nichtsein, denn die Buddha-Natur ist weder Sein noch Nichtsein und alles – Sein wie Nichtsein – ist Nichts.

Um dieses schwierige Thema anders anzugehen, will ich versuchen darzustellen, wie der Buddha selbst sich hierzu gestellt hat – gewiss: ein verwegenes Unterfangen. Ich stütze mich hierbei ganz wesentlich auf die Werke von Hans Wolfgang Schumann: Buddhismus, Schulen, Stifter und Systeme und Der historische Buddha.

Um die Lehre des Buddha, den dhamma, zu verstehen, ist es von entscheidender Bedeutung, sie im historischen geisteswissenschaftlichen Kontext zu sehen. Leere bezog der Buddha auf die empirische Person und meinte damit, dass diese keine Seele habe. Diese Feststellung ist als entscheidende Abgrenzung zur vorherrschenden Philosophie seiner Zeit zu verstehen. Um zu begreifen, worum es hier eigentlich geht, wird man um die Beschäftigung mit eben jener Philosophie nicht herumkommen, erst dann wird klar, was mit deren Ablehnung gemeint ist.

Die Brahmanen gehen von einer Seele, dem Atman, aus. Diese Annahme teilen die Upanisaden. Diese Seele wird als Ewiges, Unwandelbares, Unbedingtes gesehen, was in der Reihe der Wiedergeburten von Individuum zu Individuum geht, dem Faden in einer Perlenkette ähnlich (3):

Wahrlich, dieser große, ungeborene Atman, der alterslose, todlose, ungefährdete, unsterbliche, – er ist das Brahman.

Unter Brahman ist die alle Wesen verbindende Welt-Seele zu verstehen. Das Aufgehen der Individual-Seele in die Welt-Seele, des Atman in den Brahman also, ist ein Gedanke, der sich immer wieder findet, etwa in der unio mystica der europäischen mittelalterlichen Denker und auch pikanter Weise in einer Reihe von Äußerungen des Mahayana-Buddhismus über sunyata, die Leerheit.

Siddhattha Gotama, der spätere Buddha, kannte diese Vorstellungen genauestens, wahrscheinlich schon, bevor er als Asket in die Hauslosigkeit auszog. Spätestens beschäftigte er sich hiermit näher, als er sich seinem zweiten Lehrer, Uddaka Ramaputta, für kurze Zeit anschloss.

In der Negation der Seele (Anatta-Lehre; sanskrit: Anatman) stellte sich der Buddha eindeutig in Opposition zu der gängigen Philosophie seiner Zeit. Das ist einigermaßen verwunderlich, hält er doch an der Idee der Wiedergeburt fest. Die genaue Analyse der Bestandteile einer empirischen Person lässt jedoch keinen Raum für eine Seele. Welches nun sind diese Bestandteile (khanda)? Ich will sie hier kurz aufzählen:

1. Körper

Dieses ist der physische Organismus, bestehend aus Knochen, Muskeln, Haut … Er ist Träger der übrigen, nicht-physischen Persönlichkeitsanteile.

2. Empfindungen

Das sind die Reize, die von der Persönlichkeit mittels ihrer Sinnesorgane von der Umwelt aufgenommen werden.

3. Wahrnehmungen

Sie folgen aus den Empfindungen.

4. Geistesregungen

Sie entsprechen den Begierden, Abneigungen oder der Bewertung als neutral, welche sich in der Regel aus den Wahrnehmungen ergeben. (4)

5. Bewusstsein

Dieses schließlich ist das Gewahrwerden des durch Empfindung, Wahrnehmung und Geistesregung aufgenommenen Objektes, der nun vom Verstand beleuchtet wird.

Aus diesen fünf Bestandteilen, und nur aus diesen, besteht eine jede Persönlichkeit. Diese sind vergänglich: (5)

Nicht gibt es, Mönch, irgendeinen Körper, der beständig, fest, dauerhaft, nicht dem Gesetz des Vergehens unterworfen ist (und) sich ständig gleich bleiben wird. Nicht gibt es, Mönch, irgendeine Empfindung … , irgendeine Wahrnehmung … , irgendwelche Geistesregungen … , irgendein Bewusstsein, das beständig, fest, dauerhaft, nicht dem Gesetz des Vergehens unterworfen ist (und) sich ständig gleich bleiben wird.

Wenn also alle Bestandteile der Persönlichkeit dem Wandel unterworfen sind, so können sie nicht Atman, Seele im Sinne der Upanisaden sein. In diesem Sinne ist auch der Terminus Ichlosigkeit zu verstehen. Verneint wird ein dauerhaftes Ich, welches ungeboren, alterslos, todlos, ungefährdet, unsterblich wiedergeboren wird.

So, und nur so, ist der Begriff Ichlosigkeit im ursprünglichen Buddhismus zu verstehen. Dieser Terminus ist ohne Kenntnis der Zusammenhänge äußerst missverständlich. Es muss einem jeden, der mit der erstmals Anatta-Lehre konfrontiert wird, absurd erscheinen, dass er kein Ich haben soll, widerspricht das doch offensichtlich seinem Empfinden und dem gesunden Menschenverstand. Selbstverständlich negiert der Buddha nicht emotionale Regungen, aus denen sich ein Ich-Gefühl ergibt, sondern er lehnt lediglich eine unsterbliche Seelen-Entität ab.

Ist diese rein terminologische Schwierigkeit ausgeräumt, scheint die Lehre der Leere eindeutig. – Weit gefehlt! Der Mahayana-Buddhismus setzt in dieser Frage ganz andere Akzente, was mit dem prinzipiellen Unterschied beider Richtungen zusammenhängt: Während der Theravada-Buddhismus zunächst jeden einzelnen Menschen, dessen Erleuchtung und somit dessen Erlösung vom Leiden im Auge hat, ist Ziel des Mahayana-Buddhismus die Erlösung aller Menschen in ihrer Gesamtheit.

Entsprechend analysiert der Theravada-Buddhismus das Individuum, erklärt, dass dieses keine Seele hat, um ihm zu helfen, sich aus eigener Kraft zu befreien. Dieses Bestreben zielt fraglos auf einen jeden Menschen. Der Wunsch: Mögen alle Wesen glücklich sein! und wie man ergänzen kann: Möge ein jeder die Vorstellung einer Seele als Wahn erkennen! ist Anliegen eines jeden Thervadin.

Der Anhänger des Mahayana sieht weniger den Einzelaspekt, sondern, wie oben angeführt, alle Menschen in ihrer Gesamtheit. Diese Menschen sind, darin stimmt er formell mit der Lehre der Ordensälteren überein, ohne Seele im Sinne der Brahmanen. Dieses ist allen Wesen, allen Dingen gemeinsam. Hieraus ergibt sich die Idee der prinzipiellen Leerheit, ein alle Wesen verbindendes Merkmal.

Man beachte den feinen aber sehr wesentlichen Unterschied: Die Feststellung des Theravada Alles ist leer (von einer ewigen Seele) ist das Ergebnis einer Analyse. Die Ansicht des Mahayana Alles ist Leerheit ist eine synthetische Aussage. Leerheit bezeichnet hier den Urgrund der Welt, den alles verbindenden transzendenten Hintergrund. So ist zum Beispiel folgende Aussage zu verstehen: (6)

… Alle Daseinsfaktoren sind durch Leerheit gekennzeichnet, sie sind weder entstanden noch aufgehoben, weder unrein noch rein, weder unvollkommen noch vollkommen.

Weder entstanden noch aufgehoben, weder unrein noch rein, weder unvollkommen noch vollkommen diese Attribute erinnern mich stark an andere, nämlich ungeboren, alterslos, todlos, ungefährdet, unsterblich. Diese wurden, wie oben ausgeführt, von den Brahmanen dem Atman, der Seele beigegeben. Die Vorstellung des alles verbindenden Hintergrundes der Ding erinnert an die des Brahman.

Ist also der Begriff der Leerheit die Wiedereinführung der Seele? Dieser paradoxe Eindruck drängt sich mir bei der Lektüre vieler Schriften des Mahayana auf. Die Mahayani würden ihn wohl als abwegig bezeichnen. Hier zeigt sich die Problematik der dunklen Sprache, wie sie in den Zen-Koans aber zum Beispiel auch in vielen tibetischen Schriften verwendet wird.

Es stellt sich vordergründig die Frage, welche Ansicht nun die richtige ist. Diese Frage ist eng verbunden mit der Frage, was in diesem Zusammenhang richtig bedeutet. Es geht hier sicherlich nicht an, dieses Problem im Licht der Naturwissenschaften auf beweisbare Aussagen hin abzuklopfen. Es geht vielmehr darum, Leiden aufzuheben, ganz im Sinne der Edlen Vier Wahrheiten (7). Eine hierhin führende Lehre sollte pragmatisch an diesem Ziel ausgerichtet sein. Hierzu gehört ein möglichst hohes Maß an Plausibilität. Der Buddha forderte die Menschen immer wieder auf, die Lehre für sich selbst zu prüfen, wie etwa in seiner Rede an die Kalamas (8):

… Und wenn ihr selbst erkennt: Diese Dinge sind heilsam, annehmbar, werden von Verständigen gepriesen, führen, wenn verwirklicht, zu Heil und Glück – dann, Kalamas, solltet ihr sie Euch zu Eigen machen.

Wie sollten die Kalamas das wohl anstellen mit Koans des oben angeführten Typs (es gibt noch weit mysteriösere)? Eine Lehre soll sich an ihrem Zweck orientieren. Ein solcher Pragmatismus ist auch ein ganz wesentliches Merkmal des Buddha (9):

… Nur wenige Dinge [derer, die ich erkannt habe] sind es, die ich offenbart habe. Und warum habe ich sie nicht offenbart? – : Weil sie nichts mit dem Nutzen zu tun haben, nicht dem heiligen Leben dienen, nicht zur Abkehr, Leidenschaftslosigkeit, Beruhigung, zum Verständnis, zur Weisheit, zum Verlöschen führen.

In diesem Ausspruch hat der Buddha sehr klar umrissen, worum es geht. Mir leuchtet das ein und deswegen neige ich zum Theravada. Es ist aber fraglos zutreffend wenn der Dalai Lama feststellt, dass es viele verschiedene Erkrankungen und ebenso verschiedene Heilmittel gibt.

Mögen alle Wesen die angemessenen Heilmittel finden,
mögen alle Wesen glücklich sein!

Fußnoten:

1 Es handelt sich um den Kommentar Ch’i-hsin-lun von Asvaghosa, mittelindischer Dichter, 2. Jahrhundert.
2 Koan: Paradoxon, das im Zen-Buddhismus eingesetzt wird. Es sind Texte, die logisch-analytisch nicht begreifbar sind. Mit ihrer Hilfe soll der sich hiermit beschäftigende Schüler das übliche Denkschema überwinden, sein Geist soll transzendieren.
3 Brhadaranyaka-Upanisad 4, 4, 25
4 Das ist nicht zwangsläufig so: Bei entsprechender Achtsamkeit lassen sich derartige Geistesregungen vermeiden.
5 Samyuttanikaya 22, 97, 9-13 III
6 Hrdasutta 4
7 Die Wahrheit vom Leiden, seinem Ursprung, seiner Auflösung und des Weges zur Auflösung.
8 Anguttaranikaya 3, 65
9 Samyuttanikaya 56, 12, 4, 1
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