Betrachtungen zum Karneval

Ethik aus Einsicht

Dr. Jochen Lengerke

Der Karneval ist eines der für mich am schwersten zugänglichen Feste. Ihm wurde in meiner Familie nie mehr Beachtung geschenkt, als sich aus der Neugierde gegenüber etwas völlig Wesensfremdem ergibt. Neugierde ist dabei wohl noch eine reichlich euphemistische Umschreibung. Richtiger ist wohl, dass meine Eltern in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Abscheu das närrische Treiben in den Hochburgen des Karnevals zur Kenntnis nahmen.

Auch mir ist diese Haltung noch immer zu eigen: Die Prunksitzungen der einschlägigen Vereine sind mir zutiefst zuwider, wo alte Männer mit albernen Kappen in dumpfer Geilheit auf die Beine der Funkenmariechen glotzen und über jeden noch so blöden Witz des Büttenredners auf TÄTÄÄ-Kommando grölen. Veranstaltungen wie die Weiberfastnacht, wenn durch Alkohol enthemmte Furien durch die Straßen ziehen und im günstigsten Fall nur Sachbeschädigung an Krawatten begehen, jagen mir Schauer des Entsetzens über den Rücken. Ich verabscheue zutiefst diese Art der saisonalen Bewusstlosigkeit, die die Karnevalisten Humor nennen, die tatsächlich aber von diesen Komikern todernst genommen wird: Wehe dem Mann, der seinen Schlips nicht dem Entmannungsritus opfern will! Wehe dem Bürgermeister, der meint, er habe Wichtigeres zu tun, als seine Arbeit durch die Jecken stören zu lassen! Diese trifft der Zorn der Tollitäten. Da verstehen sie überhaupt keinen Spaß, wenn jemand ihrer Art von Humor nicht zu folgen vermag.

Um dem tieferen Sinn dieses Ereignisses auf die Spur zu kommen, soll zunächst an den Ursprung des Karnevals erinnert werden. Es ist die Zeit vor der Fastenperiode und steht zu dieser in diametralem Kontrast: Es gibt wohl keine Gelegenheit, bei der so besinnungslos gefeiert wird wie unmittelbar vor der Fastenzeit, deren Zweck nicht zuletzt Sinnfindung sein soll. Es scheint so, als legten es die Gläubigen darauf an, heftig zu sündigen, damit sie anschließend Grund zum Büßen haben. Zu dieser Zeit werden einerseits sonst mühsam sublimierte Triebe hemmungslos ausgelebt, anderseits wird dann auch die Gelegenheit genutzt, als sonst braver Bürger oder als kirchengläubiges Gemeindemitglied mittels der Satire aufzubegehren und sich so über die Obrigkeit gefahrlos lustig zu machen.

Der letztgenannte Aspekt der Möglichkeit zur Kritik im Narrengewand soll hier weniger interessieren. Er ist in unserer Zeit, in der das Narrengewand nahezu zur Uniform wird, von weit untergeordnetem Belang. Wesentlicher ist sicherlich die Revolte gegen die eigene, innerliche Obrigkeit, gegen Anstand, Sitte und Moral, gegen das Über-Ich, wie Freudianer formulieren würden. Dieses Aufbegehren ist weit eher betrachtenswert, hat es doch tatsächlich Ausnahmecharakter. Es ist wohl notwendig, sich gelegentlich mal von all den Zwängen, denen wir uns ausgesetzt wähnen, zu befreien, sich Luft zu machen im Muff überbrachter Konventionen.

Die unbedingte Bindung an starre Regeln stellt wie der besinnungslose Taumel des Karnevals jeweils ein Extrem dar. Die Praxis nun, die Unerträglichkeit asketischer Selbstverleugnung durch Fall in das entgegengesetzte Extrem zu kompensieren, ist offensichtlich problematisch. Ein solches Verhalten ist aber sehr häufig – Karneval ist hier nur ein besonders eklatantes Beispiel. Bei genauer Betrachtung des Alltags unter diesem Aspekt werden immer wieder ähnliche Konstellationen deutlich, zum Beispiel in der Paarung Beruf – Freizeit.

Dieses beständig vor Augen haltend, ist es nun die lebenslange Aufgabe, einen richtigen, einen mittleren Weg zu finden. Das ist sicherlich nicht immer einfach. In unserer Gesellschaft, so will mir scheinen, ist es eher angebracht, wenn wir uns mehr bescheiden: Wir befinden uns weit eher in der Situation des Prassers als in der des Asketen. Unsere Lebensumstände tendieren sicherlich mehr zur Ausschweifung als zur übertriebenen Selbstzucht. Insofern wäre es für uns fraglos heilsam, uns mehr als gemeinhin üblich zu zügeln. Die Korrektur unseres Verhaltens allerdings soll sich nicht an starren Dogmen orientieren (diese führen nahezu gesetzmäßig wieder zum gegenteiligen Extrem) sondern an Ethik.

Ethik ist nach meinem Verständnis trotz fraglos vorhandener Schnittmengen streng von Moral zu trennen.

Ethik fragt nach fair / unfair  – Moral nach gut / böse.
Ethik beruht auf Einsicht  – Moral auf Gehorsam.
Ethik ist nachvollziehbar  – Moral willkürlich.

Diese Differenzierung bitte ich als Angebot zu verstehen. Mir hilft diese Betrachtungsweise immer wieder sehr.

Ethik aus Einsicht verleitet im Gegensatz zur oktroyierten christlichen Moral nicht zu Exzessen im Sinne des Karneval oder zu weit Schlimmerem. Wo Ethik der Moral widerspricht, ist es geboten, unmoralisch zu sein, ja: Moral offensiv zu bekämpfen. Moral ist eine Perversion der Ethik. Darum:

Feiern wir bewusst den Humanismus – nicht nur an den tollen Tagen der Bewusstlosigkeit im Karneval. Seien wir ständig voller Freude anti-moralisch!