03 – Presse-Konferenz

Bis zur Presse-Konferenz hatte Max noch Zeit – genug für einen Spaziergang. Das NDR2-Wetter galt auch für Berlin. Ein prächtiger Oktobertag. Er ließ sich einfach treiben. Kein Zeitdruck. Kurz vor 11 erschien er wieder im Hotel, drückte einem Pagen seinen Mantel in die Hand und erschien exakt pünktlich vor den Reportern.

Ich bin in Sachen Pünktlichkeit zwanghaft. Es ist an der Zeit, das abzulegen.

Es waren ein gutes Dutzend Menschen im Konferenzraum versammelt. Der kleinere im Hotel, aber für diese Veranstaltung noch überdimensioniert. Max beschloss, das Rednerpult nicht zu nutzen. Auch das Mikrofon brauchte er nicht.

Sehr geehrte Damen und Herren, begann er seinen Vortrag. Eine Ameise hat am Abend einen Grashalm erklommen, beißt sich dort fest und harrt aus, die ganze Nacht bis zum Morgen. Dann geht sie wieder ihrem üblichen Ameisen-Business nach. Am folgenden Abend die gleiche Aktion: Rauf auf den Halm, festbeißen, warten. Irgendwann endlich erscheint eine Schafherde und frisst das Gras, einschließlich der Ameise. Ziel erreicht! – Wessen Ziel? Hatte unsere Ameise eine Todessehnsucht? War es ihr Ziel, im Schafsmagen zu verenden?

Euthadorm

Max machte eine Pause, um diese unglaubliche Geschichte sacken zu lassen. An vielen Gesichtern konnte er Irritation ablesen.

Tierisches Verhalten ist für uns gelegentlich irritierend, nie aber ist es sinnlos, fuhr er fort. Darwin lehrte uns schon im 19. Jahrhundert, dass der Kampf ums Überleben unser Dasein bestimmt. Welchen Sinn hat also die vermeintliche Todessehnsucht dieser Ameise? Wäre es eine einzelne – nun ja – aber dieses verrückte Verhalten ist immer wieder zu beobachten. Viele Ameisen sind so irre, es mit hohem Aufwand darauf anzulegen, sich von Schafen verspeisen zu lassen. Sie alle tun es auf die gleiche Weise.

Max genoss die Irritation seines Publikums. Diese Story ist ja auch wirklich verrückt. Noch verrückter ist, dass sie wahr ist.

Das Verhalten unserer Heldin dient tatsächlich dem Überleben – offenbar aber nicht deren Überleben. Der eigentliche Held, der eigentliche Sieger, ist nicht die Ameise, ist auch nicht das Schaf. Es ist der Kleine Leberegel. Er befällt Ameisen, die sich an infizierten Schnecken gütlich tun. Diese Ameisen werden von den Schafen gefressen und die Erreger werden in den Schaf-Gallengängen zu Egeln, deren Eier von den Schafen ausgeschieden werden. Der Schafkot wiederum wird von den Schnecken konsumiert.
Mit solchen Dingen habe ich mich also mein Leben lang beschäftigt, mit Schafscheiß also.

Wie immer hatte Max bei dieser Pointe die Lacher auf seiner Seite. Lacher, die nicht wirklich begriffen, worum es ging, deren Intellekt die Vokabel Schafscheiß aber erfassen konnte. Immerhin was.

Jetzt meldete sich eine Reporterin. Sie stand hinten, fast abseits der Gruppe. Ich sah sie an. Kleiner als die anderen. Sehr elegant. Enganliegendes graues Kostüm, weiße Bluse. Asiatisches Gesicht. Japanerin? Vietnamesin?

Ich bin Fernanda Arroyo, Philippine Daily Inquirer.
Der Leberegel hat also das Verhalten der Ameise so massiv beeinflusst, dass die sich geopfert hat – entgegen ihrem ureigenen Überlebensdrang?
, fragte sie.

So ist es, erwiderte er.

Kann es sein, dass auch Sie derartig von Mikroorganismen beeinflusst werden?

Im Publikum machte sich wegen dieser unverschämten Frage Unmut breit. Max versuchte, die Wogen zu glätten:

Mit Verlaub: Mein Hirn ist deutlich weiter entwickelt als das einer Ameise.

Das unterstelle ich. Tatsache ist aber auch, dass das Gehirn einer Ratte mehr dem Ihren ähnelt als dem einer Ameise.

Oha! – Ausgezeichnete Antwort. Ist die derartig kompetent?

Es folgte ein Tumult unter den Presseleuten. Unerhört, was diese Frau sich hier erlaubte! Schließlich war sie ein Niemand und der Referent ein zu feiernder Wissenschaftler.

Ein Reporter der Bildzeitung (ausgerechnet!) versuchte, vom Thema abzulenken:
Sie beenden mit diesem Kongress Ihre glanzvolle Karriere. Haben Sie Pläne? Werden Sie weiter in der Forschung tätig sein?

Das habe ich vor – allerdings als Privatier. Konkreteres werde ich hier nicht äußern. Ich danke für Ihr Interesse.

Die Presseleute verzogen sich. Bis auf Fernanda Arroyo. Sie kam langsam auf mich zu. Kraftvoller, geschmeidiger Gang.

Wie eine Raubkatze auf Beutejagd.

Er hatte hinreichend Zeit, sie anzusehen. Sie gewann mit jedem Schritt noch mehr. Vielleicht Ende vierzig. Schlank, aber nicht dürr. Eher athletisch, jedenfalls sportlich. Freundliches, offenes Lächeln, vielleicht ein wenig provozierend. Asiatische Gesichtszüge. Tiefdunkle, lebendige Augen. Schwarzes glattes Haar.

Ihre Bemerkungen eben haben mich beeindruckt, Frau Arroyo. Haben Sie vielleicht Zeit für einen Kaffee?, sprach Max sie an.

Gute Idee. Hier an der Bar machen die einen ganz ordentlichen.