02 – morgens im Hotel

Guten Morgen! Es ist acht Uhr fünf. Hier ist das NDR2-Wetter für Niedersachsen. Ein herrlicher Oktobertag, kalt, aber sonnig. …«

Normalerweise geht mir diese professionell gute Laune auf die Nerven. Trotzdem hänge ich an meinem Heimatsender, habe mir sogar die Mühe gemacht, ihn mir per Internetradio hier nach Berlin zu holen. Muss wohl so was wie eine Zwangshandlung sein.

Und hier das NDR2-Verkehrsstudio. Uns wurde kein Stau gemeldet. Sie haben freie Fahrt an diesem wunderschönen Tag.

Seufzend beschloss Max, sich noch ein paar Minuten auf die Seite zu drehen. Er hatte schlecht geschlafen. Das war auch nicht verwunderlich. Immerhin war vor einem halben Jahr ein Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert und angeblich radikal operiert worden. Die Chemotherapie ist nur zur Sicherheit. – Im Prinzip ist die Sache erledigt. Hieß es.

Im Prinzip …

Max hatte Medizin studiert und hat sich natürlich kundig gemacht. Das Pankreas-Karzinom hat eine schlechte Prognose, auch bei radikaler Operation. Das einzusehen ist schwer, für den Betroffenen, aber auch für den behandelnden Arzt. Deswegen diese Tendenz zum Gesundbeten. Sicher: Es besteht eine Chance, sie ist jedoch deutlich schlechter als bei den meisten anderen Krebsarten.

Max hat sich nicht nur fachlich mit seiner Krankheit auseinandergesetzt, sondern ist auch mit sich ins Reine gekommen – so weit das eben geht. Nicht zuletzt würde das Päckchen im Salon nebenan hierzu beitragen, auf das nun sein Blick fiel. Er hatte es schon einige Tage erwartet und es war ihm gestern wie gewünscht auf sein Zimmer gebracht worden.

Es ist halb neun. Hier sind die NDR2-Nachrichten.

Ein paar Minuten noch …

Gestern war ein bemerkenswerter Tag gewesen. Max hatte seine Ergebnisse und Hypothesen auf der Mikrobiologischen Tagung vorgetragen und war gefeiert worden. Er hat es in seinem Fach weit gebracht. Es war die richtige Entscheidung gewesen, nach seinem Studium in die Forschung zu gehen. Er war mit Begeisterung dabei und genoss jetzt die Krönung, das Resümee seiner Arbeit.

Heute, am 12. Oktober 2015, war Max 60 Jahre alt geworden. Seine letzte Aufgabe war die Presse-Konferenz um 11 Uhr. Noch viel Zeit, aber auch die würde irgendwann vorbeigehen. Und dann würde er frei sein, ohne jede familiäre und jetzt auch ohne berufliche Verpflichtung.

Er hasst es, sich hetzen zu müssen. Und noch viel mehr hasst er es, zu spät zu kommen. Entschlossen warf er die Bettdecke zur Seite. Die kühle Luft erfrischte seinen nackten Körper.

Für 60 nicht wirklich schlecht. O. K. – 5 Kilo zu viel. Die OP-Narbe ist auch nicht wirklich sexy. Aber sonst …

Max wälzte sich aus dem Bett, laut stöhnend. Nicht, dass das einen konkreten Grund gehabt hätte, aber es ließ seinen Entschluss, endlich aufzustehen, heroischer erscheinen.

Auf den Hotel-Schlappen schlurfte er ins Bad, putzte die Zähne. Pille gegen Bluthochdruck und Aspirin. Dann Dusche. Der satte Strahl war ein Genuss.

Beim Einschäumen der Haare summte er. Happy birthday to you … Richtig gut gelaunt war er. Nicht nur wegen seines Jubeltages. Sehr bald würde er völlig ungebunden sein. Die Presse-Konferenz hatte noch viel Zeit. Er würde in Ruhe frühstücken können.

Kurz überlegte er sich, im Anzug zu erscheinen, zog dann aber Jeans, Hemd und Jackett vor. Wie immer aber band er sich eine Schleife. Ihm gefällt das: lässig, stylish, extravagant.

Das Frühstück hatte er sich auf sein Zimmer bestellt, wollte seine Ruhe haben. Während er wartete, sah er sich um. Er hat sich den Luxus einer Suite geleistet. Das Ambiente gefiel ihm. Das Hotel war ein Geheimtipp, ein schönes klassizistisches Gebäude, direkt am Rand des Grunewalds gelegen. Die Einrichtung stimmig, mit tiefen, schweren Sesseln aus dunkelgrünem Leder, dick, aber doch handschuhweich. Hier saß er jetzt und ließ den Blick wandern. Der Rokoko-Schreibtisch mit passendem Stuhl waren wie auch eine korrespondierende Truhe echte Antiquitäten. Ausgelegt war dieser Salon mit einem tiefroten Perserteppich. Die Vorhänge harmonierten Ton in Ton mit den Stofftapeten und umrandeten die Fenster zum Wald.

Dezentes Klopfen. Eine Kellnerin servierte das Frühstück. Nachdem Spiegeleier, Toast und Orangensaft verzehrt und die zweite Tasse Kaffee eingeschenkt waren, widmete er sich dem Päckchen, das immer noch verschlossen auf seinem Schreibtisch wartete. Jetzt war die Zeit, es zu öffnen.

Fast wie ein Geburtstagsgeschenk.

Er hatte es über verzweigte Wege vom Physiologischen Institut seiner Universität bekommen. Es enthielt ein Fläschchen mit 50 ml blauer Flüssigkeit.

400 mg Pentobarbital pro ml, das sind also 20 g. Das reicht für einen kapitalen Eber, wie ich einer bin.

Der Name amüsierte ihn: Euthadorm. Passend. Ja, das Fläschchen war ein Geburtstagsgeschenk, das er sich selbst gemacht hatte. Es gab ihm Sicherheit für den Fall, dass der Optimismus seiner Ärzte sich nicht bewahrheiten sollte. Eine Todesversicherung. Das war ihm seit dem Zeitpunkt seiner Diagnose wichtiger als jede Lebensversicherung.

Ohne Frage: Ich genieße mein Leben. – Weit mehr, denke ich, als jene, die in erster Linie die Zahl ihrer Tage fokussieren und im täglichen Trott deren Qualität aus den Augen verlieren. So trivial meine Maxime auch klingen mag: Es geht mir um Qualität und erst in zweiter Linie um Quantität. Und nur darum, um meine Einschätzung, geht es. Niemand außer mir hat über mein Leben zu befinden, meine Ärzte nicht und schon gar nicht anmaßende religiös verblendete Moralisten.

Dieses Fläschchen war seine Garantie für eu thánatos, für einen guten Tod. Und das im Schlaf. Euthadorm eben. Nicht, dass er sicher war, dass er den Inhalt dieses Fläschchens schlucken oder, besser noch, injizieren würde. Aber er könnte es.

Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe große Angst vor dem Verrecken.

Dieses Fläschchen gab ihm die Chance zur Gelassenheit, zur höchsten Tugend der Brahma-Vihara.