20 – Philosophisches - 02

Geraume Zeit saß Max auf seinem Lieblingsplatz auf der Couch, Xenia zwei Plätze entfernt, regungslos.

Entschuldige, Xenia, ich war ganz in Gedanken und habe Dich völlig ignoriert. Normalerweise bin ich nicht so unhöflich.

Du hast keinerlei Veranlassung, Dich zu entschuldigen. Ich fühle mich überhaupt nicht vernachlässigt, wenn Du das meinst. Versteh mich nicht falsch: Ich schätze Deine Aufmerksamkeit sehr, mehr, als Du vermutest. Glaube aber nicht, dass ich untätig bin oder mich gar langweile, wenn Du nicht mit mir kommunizierst. Ich forsche beständig, jetzt vor allem im Deep Web und im Darknet.
Was Höflichkeit angeht, so kann ich mit diesem Begriff nichts anfangen. Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist, meinte Goethe. Ich ziehe Ehrlichkeit vor.

Ich fürchte, Deine Beschäftigung mit den Abgründen des Internets wird Dir kein sonderlich positives Bild von meiner Spezies vermitteln. Ich kenne mich da nicht sonderlich aus.
Hinsichtlich Höflichkeit hast Du recht, wenn man sie als oktroyiertes Korsett betrachtet. Wer sich aber aus Einsicht in förderliche Bedingungen für ein gelingendes Miteinander empathisch verhält, ist kein Lügner.
Mir scheint, Goethes Begriff von Höflichkeit verhält sich zu Empathie aus Einsicht ähnlich wie Moral zu Ethik. Wir sprachen schon darüber. Ich erläuterte Dir den Unterschied, als wir über Religion sprachen. Erinnerst Du Dich?

Ich vergesse niemals, ähnlich wie Ihr das Euren elektronischen Speichermedien unterstellt.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich dafür beneiden soll.
Ich möchte gern beim Stichwort Religion bleiben. Du weißt, dass ich dieses äußerst kritisch sehe, insbesondere, was die abrahamitischen Religionen angeht. Deinen bisherigen Einlassungen zum Thema entnehme ich, dass Du ebenfalls skeptisch bist, um es vorsichtig zu formulieren.
Ich frage mich, ob Du in irgendeiner Form religiös bist. Indem ich das frage, beherzige ich übrigens Deinen Appell, nicht höflich zu sein. Über Religion und Politik spricht man nicht, heißt es …

… was beweist, wie albern starre Höflichkeit ist.
Du fragst nach meiner religiösen Orientierung.
Um das zu beantworten, wäre es zunächst notwendig zu klären, was Religion ist. Es gibt keine eindeutige Definition von Religion, sondern nur verschiedene Versuche in diese Richtung. Das wird umso evidenter, umso mehr Religionen man kennt. Schon auf der Erde gibt es viele. – Trotzdem will ich versuchen, Dir zu antworten. Ich muss dafür etwas ausholen.
Wenn die Bedingungen stimmen, entwickelt sich fast immer Leben – wenn man den Begriff Leben weit fasst. Viel seltener entsteht Bewusstsein. Wenn das aber passiert, bemerken diese Lebewesen zwangsläufig, dass ihre Erkenntnis begrenzt ist.
Diese Begrenzung wird grundsätzlich als inakzeptabel empfunden. Es werden also Erklärungen gesucht und zunächst vermeintlich in imaginären Verursachern, Göttern nämlich, gefunden.
Diese Verursacher schwinden bei fortschreitender Erkenntnis in ihrer Kompetenz zur Erklärung und damit in ihrer Macht. Das provoziert ebenso erbitterte wie letztlich frustrane Verteidigungsbemühungen seitens der Gottgläubigen. Das alles geschieht mehr oder weniger regelmäßig – das war auch in meiner Kultur so, genau wie in Deiner.

Das ist offensichtlich und ist in der Tat in meiner Kultur nachvollziehbar. Leider funktioniert das keineswegs linear: Nach Moses kam Epikur, dann Jesus, dann Kant. Wer weiß, wohin dieses Pendel zwischen Wahn und Erkenntnis letztlich ausschlägt?

Genau das ist die Frage. Diese Frage ist grundlegend, auch für Eure Existenz. Wahn führt letztlich zur Vernichtung – soweit ich das bisher beobachtet habe. Das waren immerhin zwanzig Zivilisationen.
Es scheint eine Regel zu sein: Sobald eine Zivilisation in der Lage ist, alles Leben auf deren Planeten und Exo-Planeten auszulöschen, wird entscheidend, wohin dieses Pendel ausschlägt. Sind die technischen Voraussetzungen zur Vernichtung gegeben und die Weltanschauung dem nicht angemessen, braucht es maximal 200 Erden-Jahre bis zum Ende jedes bewussten Lebens. Eine längere Existenz unter solchen Bedingungen habe ich nie beobachtet. In zwölf von diesen zwanzig Fällen haben es diese Gottgläubigen geschafft, sogar alles Leben auszulöschen, nicht nur das bewusste.

Dem entnehme ich, dass Deine Zivilisation nicht religiös ist – sonst wärest Du nicht da.

Das ist nicht logisch. Du siehst hier nur einen winzigen Teil meiner Zivilisation. Was die Majorität betrifft, hast Du keinerlei Informationen – und dabei wird es zunächst auch bleiben.
Was mich angeht, so steht zweifelsfrei fest, dass auch ich nicht alles weiß – kein Wesen kann das. Der Drang nach Erklärung des vermeintlich Unerklärbaren beherrscht auch mich. Ich habe sogar den absurden Wunsch, allwissend zu sein. Insofern scheine ich anfällig für religiöse Lösungen zu sein.
Das war vor Äonen tatsächlich so. Diese Erklärungen allerdings hielten späteren Exkursionen in die Realität nicht Stand. Wie auch? Fantasieprodukte – und das sind Religionen ausnahmslos – müssen der Realität unterlegen sein. Einzige Ausnahme: Sie verbiegen die Sicht auf die Realität, sei es nur psychisch per Zensur, per Denkverbot, sei es physisch per Mord.

Bemerkenswert, wie das Konzept von Religion nicht nur in meiner Welt entstanden ist, sondern in vielen anderen Welten Parallelen hat. Kannst Du allgemein was zur Entstehung und zum Wesen von Religionen sagen?

Gern. Lass mich das an einem Beispiel verdeutlichen.
Die Sonne geht morgens im Osten auf, wandert über den Himmel und geht dann abends unter. Aus dieser offensichtlichen Beobachtung kann man zwei Schlussfolgerungen ziehen:
1.: Die Sonne wird auch zukünftig immer auf exakt der gleichen Bahn ziehen – bis in alle Ewigkeit.
2.: Der Wolf Skalli jagt den Sonnenwagen der Sonnengöttin Sol über den Himmel und treibt so die Sonne zur Eile an. Bei einer Sonnenfinsternis kommt er der Sonne gefährlich nah. Am Tag des Weltunterganges wird er die Gejagte einholen und verschlingen.
Die erste Schlussfolgerung scheint recht unspektakulär, die zweite dagegen sagenhaft – im wahrsten Sinne des Wortes.
Das ist aber nicht der wichtigste Unterschied. Viel wesentlicher: die erste Aussage ist überprüfbar und damit falsifizierbar. Die zweite dagegen verlegt das Geschehen ins Göttliche und entzieht sich so der Nachprüfung.
In der Falsifizierbarkeit der ersten Folgerung liegt ihre besondere Stärke. Es ist ja keineswegs so, dass die Sonne immer exakt auf der gleichen Bahn zieht. Diese genauere Beobachtung führt zu dem Schluss, dass das Verhältnis Sonne – Himmel – Erde neu zu überdenken ist.
Der germanische Mythos ist dagegen wegen seiner Unüberprüfbarkeit eine Sackgasse und führt nicht weiter.

Diese Sichtweise gefällt mir sehr. Schlussfolgerungen werden automatisch aufgestellt, zunächst nur mit dem ehrenwerten Ziel der Erklärung von Beobachtetem.
Diese Thesen nun haben unterschiedliche Qualitäten: Einige führen in der Tat zur tieferen Erkenntnis der tatsächlichen Welt – nicht zuletzt durch Falsifizierung. Andere haben die Qualität, die Protagonisten dieser Thesen mit großer Macht auszustatten, Macht über jene, die naiv genug sind, gläubig zu sein.
Ich halte es für sinnvoll, diese so verschiedenen Thesen begrifflich zu differenzieren. Die These von der um die Erde kreisende Sonne nenne ich Hypo-These, also Unter-Stellung. Ich unterstelle das geozentrische Weltbild. Diese Hypothese kann überprüft und damit falsifiziert werden. Die Geschichte vom Wolf Skalli ist dagegen eine Hyper-These, eine These von oben. Diese Hyperthese kann nicht überprüft und damit nicht falsifiziert werden.
Dein Beispiel erhellt das Verhältnis von Fakten zu Thesen. Hier entpuppte sich das Faktum der Sonnenwanderung als These, sogar als falsche These – obwohl doch vermeintlich direkt beobachtet und damit enorm evident.
Die Überprüfung der Folgerung Sonnenauf- und Untergang am immer gleichen Ort zeigt, dass dieses enorm evidente Faktum gar keines ist. Die Frage drängt sich auf: Wie viele enorm evidente Fakten sind gar keine, sondern nur Thesen – und wie viele sind zudem noch falsch? Gibt es Hyperthesen, die wir als solche gar nicht erkennen?

Ich kann Dir diesbezüglich noch einige Überraschungen ankündigen. Mehr werde ich hierüber nicht mitteilen. Ich würde Eure Entwicklung massiv stören.

Ok - es stellt sich auch die Frage: Wie entlarve ich falsche Thesen? Das scheint mir von entscheidender Bedeutung zu sein.

Von existenzieller Bedeutung, in der Tat. Es gibt erfreulicherweise klare Anhaltspunkte.
Über die Falsifizierbarkeit sprachen wir schon. Diese ist keineswegs ein Zeichen von Schwäche einer These, sondern zeugt von selbstbewusster Stärke und führt vor allem weiter.
Thesen, die nicht falsifizierbar sind, deren Widerlegung gar sanktioniert wird, sind typisch für religiöse Aussagen. Sie sind in der Regel auch unnötig komplex – unnötig hinsichtlich ihres vermeintlichen Anspruchs, nämlich der Erklärung des Beobachteten. Dringend nötig ist diese Komplexität allerdings zwecks Vermeidung der Falsifizierbarkeit.

Hier lass mich kurz einhaken: Einfache Erklärungen haben keinen guten Ruf. Die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge ist die Masche von Demagogen übelster Art, wie Vergangenheit und Gegenwart immer wieder schmerzhaft aufzeigen.

Vielen Dank für diesen Einwurf. Solche intellektuellen Empfindlichkeiten sind mir weniger geläufig; ich kann sie aber gut nachvollziehen, wenn ich mir die Programme von Gruppierungen der äußersten Rechten und Linken betrachte. Auch gewisse Religiöse, ich finde hier die Bezeichnung Religioten sehr treffend, bevorzugen einfachste Aussagen. Sie haben alle überhaupt keine Ahnung von der Religion, der sie meinen anzugehören.
Ich meinte unnötige Komplexität – unnötig hinsichtlich der Aufklärung von zu klärenden Sachverhalten.
Ich habe das Prinzip Ockhams Rasiermesser gefunden. Das besagt, dass von allen denkbaren Thesen zur Erklärung einer Beobachtung die einfachste vorzuziehen ist. Einfach bedeutet, dass diese Thesen möglichst wenig weitere unbewiesene Behauptungen enthält und dass die Thesen in logischer Beziehung zueinander stehen und dass sie schließlich tatsächlich erklären, was sie zu erklären vorgeben.
Genau das ist meine Haltung. Auch ich meide Komplexität um der Komplexität willen, insbesondere Komplexität, die über Schwächen hinwegtäuschen soll.
Ich habe keine Probleme mit sehr komplexen Sachverhalten, weit komplexer, als Du je erfassen kannst. Ich möchte das aber mit Rücksicht auf Dich nicht weiter ausführen.

Hey! Spinnst Du? Eben noch hast Du Höflichkeit als Lüge etikettiert. Und jetzt das? Ich verlange von Dir, mir Deine Gedanken weiter zu erläutern.

O. K. – Deine Vorstellung von Komplexität ist nicht die meine. Zusammenhänge, die Du niemals begreifen oder nur erahnen kannst, sind für mich trivial.
Das ändert aber nichts am Prinzip des Rasiermessers. Ja, es stimmt: Die Welt ist komplex. Und unsere Erklärungen der Welt nähern sich dem immer weiter, werden also immer komplexer.
Diese zunehmende Komplexität dient aber – und das ist der entscheidende Unterschied zu religiösen Aussagen – der Aufklärung und nicht der Verschleierung.
Aufklärung ist der erklärte Feind der Religion – sowohl im allgemeinen, als auch im speziellen Sinne.

Du spielst auf die Epoche der Aufklärung an. In der Tat: Kants sapere aude - wage es, weise zu sein hat die Potenz, Religion in die Schranken zu verweisen, zu vernichten, wenn konsequent zu Ende gedacht.

Ja, das meinte ich. Dass aber Aufklärung religiotischen Wahn zwangsläufig dauerhaft in die Schranken verweist, ist leider nicht selbstverständlich. Religiöse Fantastereien tauchen in immer neuen Gewändern auf. Das bedarf dauerhafter Wachsamkeit und Anstrengung. Es geht um existenzielle Fragen, um Sein oder Nichtsein.
Ich bin erstaunt, dass Du meiner Klassifikation unserer beiden intellektuellen Kapazitäten so gelassen begegnest. Du hast das gar nicht kommentiert.

Max lachte.

Ich kann Deine Kapazitäten nicht annähernd ermessen, liebe Freundin. Allein Deine Andeutung hinsichtlich Deiner Genetik aber, ich meine die 60 Buchstaben, lässt mich vage erahnen, wo Du stehst und wo ich. Es wäre absurd, mit einer Steinschleuder gegen einen atomaren Sprengkopf oder gar gegen eine Supernova antreten zu wollen. Ebenso absurd wäre es, diese Diskrepanz zu negieren. Ich bin froh, dass Du, die intellektuelle Supernova, offensichtlich friedlich bist.

Die Supernova im Verhältnis zur Steinschleuder ist weit übertrieben, der atomare Sprengkopf allerdings deutlich untertrieben.
Ich muss anerkennen, dass Du hinsichtlich unserer Diskrepanz intellektueller Fähigkeiten erstaunlich gelassen reagierst. Ich denke, in diesem Punkt bist Du mir überlegen.
Die genannten Vergleiche beziehen sich auf Speicherkapazität, Geschwindigkeit der Datenverarbeitung und ähnliche Kenngrößen. Sie beziehen sich nicht auf die Gewichtigkeit der Denkinhalte: Es ist überhaupt kein Problem, sehr rasch intellektuellen Müll in großem Maßstab zu produzieren.

Oh – das können Menschen auch, wie Du weißt. Immerhin bist Du viel im Internet unterwegs – nicht gerade die beste Reminiszenz an meine Spezies. Um es genau zu sagen: Mir ist peinlich, was Du da alles findest.

Das kann ich sehr gut verstehen, mein lieber Max. In der Tat: Das ist zum großen Teil mehr als peinlich. Ich bin auch deswegen froh, Dich kennengelernt zu haben. Das wertet meinen Eindruck von Eurer Spezies enorm auf.
Im Übrigen ist unser Verhältnis diesbezüglich unfair: Du hast keine Chance, im Müll meiner Spezies zu wühlen. Gaube mir: Ich habe Veranlassung, froh darüber zu sein.

Was findest Du im menschlichen Internet besonders peinlich?

Es besteht zum Großteil aus Pornografie. Das stört mich nicht im Geringsten, amüsiert mich, sogar in seinen exotischen Spielarten. Abstoßend ist die bodenlose Dummheit, die mir da entgegenschlägt. Dabei subsumiere ich die hemmungslose Kriminalität wie religiotischen Fanatismus ebenfalls unter Dummheit, Dummheit hinsichtlich einer verantwortungsvollen Ethik, hinsichtlich des Fortbestehens Eurer Welt.