Exkurs:
Hiob

Ich zitiere eine tief gläubige Frau, die ich vor vielen Jahren in ihren letzten Stunden betreute:

Warum muss ich so grausam sterben? Ich habe nie jemandem etwas getan. Im Gegenteil: Ich habe mein ganzes Leben in den Dienst Gottes gestellt. Ich habe mich aufgeopfert, habe auf so vieles verzichtet. Wofür straft Gott mich? Was habe ich falsch gemacht?

Gott

Ich war seinerzeit sprachlos. Ich würde mich auch heute noch in einer solchen Situation sehr schwertun. Der Glaube dieser Frau hat sie in tiefe Verzweiflung gestoßen. Das ist das genaue Gegenteil von Trost. Es war in dieser Situation sicher nicht opportun, zu versuchen, die Patientin über ihren fundamentalen Irrtum aufzuklären, sie darin zu bestätigen. Obwohl zutreffend, konnte ich ihr unmöglich sagen, dass sie keine Hilfe von irgendeiner Fantasiefigur erwarten kann.

Teufel

Ich bin überzeugt, dass ein Priester Worte gefunden hätte, wahrscheinlich auch noch im Glauben, es seien die richtigen. Möglicherweise hätte er von Hiob gefaselt – die arme, verwirrte Frau jedenfalls tat das.

Zu Erinnerung: Hiob ist der arme Kerl, den der liebe Gott zum Spaß gefoltert hat. Der allgütige Vater hatte nämlich gerade eine lustige kleine Wette mit dem Teufel laufen. Es ging darum, einen unschuldigen Mann in die Knie zu zwingen. Um das zu erreichen, mordet Gott die zehn Kinder des Hiob und ruiniert ihn wirtschaftlich. Weil das Opfer dieser Verbrechen darauf noch nicht gebrochen ist, beschließt Gott, ihn neben dieser psychischen Folter auch noch physisch mit grausamen Krankheiten zu quälen. (Wer es nicht glaubt, der lese in der Bibel nach! – Eine weitere, hinreichend drastische Nacherzählung des Hiob-Märchens habe ich in der Bilderklärung zur Grafik unten verfasst.)

Hier wird ein ungeheuerliches Verbrechen geschildert. Ich traue Typen, wie zum Beispiel dem Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß, und seinem Vertreter, Hauptsturmführer Karl Fritzsch, dem Erfinder der Gaskammern, eine solche Wette zu.

Auschwitz
i

Selbstverständlich würde niemand diesen widerlichen Nazis eine höhere Weisheit unterstellen, die in einem unergründlichen Ratschluss mündet. Ich bin auch nicht bereit, derartige Ausflüchte für irgendeinen imaginierten Widerling zu akzeptieren. Es bleibt, was es ist: Eine zynische, menschenverachtende Wette zwischen zwei ekelhaften Typen, seien sie real oder Absonderungen perverser Fantasien.

Auf die sadistische Folterung Abrahams und seines Sohnes bin ich an anderer Stelle schon eingegangen.

Ich frage mich, wie deformiert der Intellekt sein muss, der in diesen widerwärtig-zynischen Märchen Trost findet. Mich erfüllt es von Abscheu gegen einen solchen Gotteswahn.

Um auf die bedauernswerte Sterbende zurückzukommen: Wer sein Weltbild auf Sand baut, muss mit Problemen rechnen. Diese Patientin nun hatte sich auf einem himmelhohen Turm aus Sand eingerichtet und stürzte entsprechend tief: Der Einsturz ihrer Konstruktion riss ihr in doppelter Hinsicht den Boden unter den Füßen weg:

Erstens: 1. Der von ihrer Religion erhoffte Trost verkehrte sich ins Gegenteil, wähnte sie doch, sie werde von ihrem Gott gestraft.
Zweitens: 2. Ihre ganze Lebensausrichtung, ihr Verzicht, ihre Opfer, das lebenslange, unendlich mühsame Aufschütten des Sandturmes entpuppte sich als sinnlos, steigerte nur ihre Fallhöhe.

Dieses Erlebnis war ein frühes und entscheidendes Moment für mein Verhältnis zu Religion – ist es immer noch. Das Schicksal dieser Frau, ihre abgrundtiefe Verzweiflung mitzuerleben, zündete Zorn bei mir, Zorn, dessen Flammen ich auch heute, Jahrzehnte danach, mitunter kaum bändigen kann.