Zurück zu den Versuchen, die Welt zu begreifen. Wir sahen, dass die Fragen nach dem Warum dem Menschen eigentümlich sind – in Anfängen wohl seit dessen Entstehung vor 200.000 Jahren. Das hat sich bis heute trotz Bemühungen der Religion nicht geändert.
Der Inhalt der Erklärungen hängt selbstverständlich vom Informationsstand des Suchenden ab – und dieser wiederum von dessen Möglichkeiten. So wird der Höhlenbewohner der Altsteinzeit vor 120.000 Jahren ein anderes Weltbild gehabt haben als wir. Dass er aber Fragen hatte und auch Antworten fand, ergibt sich aus Urgeschichtsforschung, insbesondere aus Grabbeilagen. Von diesen kann auf kultische Handlungen geschlossen werden.
Es sei eingeräumt, dass der Zeitpunkt des Auftretens von Religion umstritten ist, wie sogar der Religionsbegriff selbst. Jedenfalls ist wohl zu unterstellen, dass Grabbeigaben einen Zweck hatten und Folge der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod waren.
Auch Höhlenmalereien legen Forscher eine religiöse Bedeutung bei. Sie werden somit nicht als sinnfreie Kunst, sondern als Darstellung eines Weltbildes interpretiert. Es wurden meist große, mächtige Tiere abgebildet, wie beispielsweise der Bison aus der Höhle von Altamira in Spanien. Hier spielte wahrscheinlich eine Vorstellung von Lebensmächtigkeit eine Rolle, die Sehnsucht des Menschen, durch Identifikation mit dem Tier selbst an Macht zu gelangen. Die Abbildungen dienten somit der mystischen Übertragung von Kraft und Überlegenheit.
Freilich können wir über die Vorstellungen der steinzeitlichen Höhlenmaler nur spekulieren. Ähnliche animistische Vorstellungen zeigen sich auch in der ursprünglichen Religion der australischen Aborigines, der Traumzeit. Auch hier findet eine Interpretation der Welt statt – und zwar über das Offensichtliche hinaus. Der Horizont der tatsächlichen Beobachtungen und Erfahrungen war eng und reichte nicht zur Erklärung, zur Antwort auf die drängenden Fragen nach dem Warum. Diese Erkenntnislücken wurden mit mythischen Fantasien gefüllt.
Verlassen wir die Spekulationen über zeitlich und örtlich so weit entfernte Religionen und wenden uns denen zu, die wir besser zu kennen meinen, den abrahamitischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Sie gehen auf die vorisraelitische Religion der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob zurück. Deren Existenz wird lediglich in biblischen Erzählungen und in davon abhängigen Traditionen behauptet; glaubwürdigere Quellen gibt es nicht.
Sei’s drum: Sie lebten vor etwa viertausend Jahren als Nomaden in der Wüste mit einem Weltbild, das aus unserer Perspektive recht nah an dem der Steinzeitmenschen lag. Der Unterschied ist, dass deren Erklärungsversuche hinsichtlich der Zusammenhänge in ihrer Welt überliefert sind. Sie glaubten an JHWH, Jahwe oder Jehova. Dieser wurde als einziger Gott angesehen, was eine Neuerung darstellte: JHWHs Vorgänger, der ugaritische El, wurde 1.400 vor Christus noch als oberster vieler Götter verstanden. Der Zusammenhang mit El wird als Wortwurzel auch im Begriff Allah
deutlich.
Dieser JHWH nun diente als Universalschlüssel zu den Fragen, die die Nomaden an ihre Welt stellten. Er wurde als Schöpfer dieser Welt imaginiert, als Grund für ihren Zustand, als Ziel allen Seins. Diese Vorstellung war völlig legitim, gab sie doch eine hinreichende Erklärung für die mysteriösen Vorgänge, die diese einfachen Menschen beschäftigten.
Dass dieser Gott mit seinem eigentümlichen Sinn für Humor Abraham zum Mord am eigenen Kind genötigt haben soll, er aus heutiger Perspektive somit ein sadistischer Widerling ist, spielt hier eine untergeordnete Rolle. Untergeordnet nicht etwa, weil JHWH es nur
bei der psychischen Folter von Vater und Sohn beließ, indem er seinen verbrecherischen Befehl in letzter Sekunde widerrief. Es kommt hier auf Gottes Funktion als Schöpfer und Lenker der Welt dieser Nomaden an, einer Welt, die ohne Frage auch sinnlos-grausame Aspekte hatte.
Zu Gottes Charakter siehe auch meine Bemerkungen zum Hiob-Märchen. Verbrechen an Kindern scheinen ürigens ein Hobby des lieben
Gottes zu sein. Siehe hierzu entsprechenden Exkurs.
Bisher habe ich versucht, meine Vorstellungen über Entstehung von Religion zu darzulegen. Sie diente der Erklärung des Unerklärlichen, der Antwort auf Warum-Fragen. Diese konnten steinzeitliche Höhlenmenschen oder vorisraelitische Nomaden nicht durch Beobachtung und logische Schlussfolgerungen beantworten.
Diese Funktion, zusammenfantasierte Erklärungen mangels besseren Wissens, kennzeichnen das Phänomen Religion aber nur unzureichend. Die jeweiligen religiösen Erklärungen wären vom Erkenntnisstand abhängig. Das ist aber nicht der Fall. Die Fantasien werden wider besseres Wissen behauptet.
Kein Wunder also, dass sich immer stärker Widerstand gegen religiöse Dogmen erhob.