Exkurs: THS - Tiefe Hirn-Stimulation

Experimentelle Befunde

Ratte

Seit Jahrzehnten beunruhigt mich ein Experiment: Ratten wurde eine Sonde ins Hirn implantiert. Die Tiere konnten über eine Taste eine bestimmte Hirnregion stimulieren. Sobald sie das gelernt hatten, taten sie es ausgiebigst. Sie ließen sich noch nicht einmal davon abhalten, wenn sie dafür ein unter Strom stehendes Metallgitter überqueren mussten. Mehr noch: Sie taten gar nichts anderes mehr. Bis zu achttausendmal pro Stunde, stunden- und tagelang ununterbrochen betätigen sie diese Taste – bis zum Zusammenbruch durch völlige Erschöpfung. Nahrung, Sex, Schlaf – alle, selbst diese vitalen Bedürfnisse ignorierten die Tiere komplett.

Durch spätere Untersuchungen stellte sich heraus, dass ganz spezielle Hirnregionen diesen Effekt bei Stimulation hervorriefen. Diese Regionen vermitteln Lustgefühle, wie durch entsprechende Experimente an Menschen nachgewiesen wurde. Die Probanden äußern sich vage und wirr hinsichtlich ihrer Erlebnisse und der Gründe, warum die Reize ihnen gefallen; aber sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie sie wünschen.

Die Technik der Tiefen Hirn-Stimulation (THS) wird heute vielfach in der Medizin angewandt, so bei jeweils schweren Ausprägungen von Morbus Parkinson, Depression, Zwangsstörung, Sucht. Die Erfolge scheinen auch bei bisher austherapierten Patienten vielversprechend zu sein, Komplikationen werden selten berichtet.

Ich verstehe viel zu wenig von Neuro-Anatomie oder gar -Physiologie, um diese Behandlungsmethode zu werten. Die wissenschaftlichen und auch populären Publikationen sind überwiegend optimistisch. — Mögen sie Recht behalten!

Meine Schlussfolgerungen

Offensichtlich ist es also möglich, dass die Reizung bestimmter Hirnregionen als derartig positiv empfunden wird, dass alles andere unbedeutend wird, dass die Versuchsratten vor Lust verhungern. Sicherlich: über eine Elektrosonde gesetzte Reizungen kommen in der Natur nicht vor, sind nicht physiologisch. – Diese Hirnbezirke sind aber vorhanden und sie haben offensichtlich einen evolutionären Sinn, soll heißen: bedingen Vorteile im Kampf ums Überleben. Ohne diese Lust vermittelnden Regionen kein Sex und damit keine Fortpflanzung, kein Überleben der Gene.

Es ist nachvollziehbar, dass die Ratten von der induzierten Lust angetan waren und deswegen die Taste wiederholt drückten. Dass sie aber in kürzester Zeit eine derartige Sucht entwickelten, die sie überlebenswichtige Antriebe ignorieren ließ, ist alarmierend, ist für die Tiere im wahrsten Sinne des Wortes tödlich.

Man mag einwenden, dass es sich hier um Ratten und nicht um Menschen handelt, dass uns diese Befunde also nicht betreffen.

Hierzu sei angemerkt:

Ein weiterer Einwand ist zu bedenken: Ich zeichne hier ein grobes, holzschnittartiges Bild von den hochkomplexen Verhältnissen im Hirn. Es gibt viele miteinander vernetzte, zum Teil noch gar nicht genau bekannte Strukturen, die sich gegenseitig verstärkend, aber auch hemmend beeinflussen. Schließlich soll es Hirne geben, in denen es auch um andere Inhalte als Sex gibt – selbst bei männlichen Individuen.

Hierzu sei weiter angemerkt:

Nehmen wir also an, dass die bei Ratten gefundenen Ergebnisse zumindest tendenziell auf Menschen übertragbar sind und akzeptieren wir den wenig differenzierten Blick auf das Ratten-/Menschenhirn.

Warum also stimulieren die Ratten ihr Hirn bis zur Selbstzerstörung? Nun waren selbst Menschen kaum in der Lage, sich hinsichtlich der Sensationen durch THS zu äußern – eine Befragung der Ratten dürfte noch ungleich schwerer sein, zumal sie lieber die Taste drücken als zu diskutieren.

Es erscheint sinnvoll, zunächst eine vermeintlich ganz andere Warum-Frage zu stellen: Warum wollen wir Sex? Die banale Antwort: Ist eben so. ist nicht die schlechteste. Die mit Abstand schlechteste Antwort ist die religiöse. Der Verweis auf Gottes unergründlichen Ratschluss ist eine erbärmliche Bankrotterklärung, führt zu nichts, blockiert jedes redliche intellektuelle Bemühen.

Ein Evolutionsbiologe würde antworten: Sexualität ist ein äußerst effektives Instrument zur evolutionären Entwicklung. Diese Antwort führt weiter, nämlich zur weiteren Frage: Wie macht Evolution das?

Das individuelle Ziel der brunftigen Ratte oder des ebensolchen Menschen ist sicher nicht die evolutionäre Entwicklung im Laufe vieler Generationen. Das Ziel ist vielmehr möglichst zeitnahe Triebbefriedigung. Diese Befriedigung oder Belohnung ist letztlich nichts anderes als eine Aktivität gewisser Hirnareale, eben jener Belohnungszentren, die auch im Rattenversuch angeregt wurden.

Das Drücken der Taste bringt eine sofortige und maximal lustvolle Belohnung im Sekundentakt – ohne jeden weiteren Aufwand. THS stellt also eine höchst effiziente Abkürzung zur Lust und damit zur Triebbefriedigung dar. Diese Befriedigung nun ist ein evolutionär entwickeltes Bedürfnis.

Es ist denkbar, dass die Stimulation jenes Belohnungszentrums die Basis einer jeden Motivation ist – nicht nur hinsichtlich Sex. Jede evolutionär wünschenswerte Handlung könnte diesen Effekt auslösen, so etwa auch Nahrung oder Sozialverhalten.

Diese Motivation scheint derartig stark, ja zwingend sein, dass keine Alternative besteht. Die Ratte ist offensichtlich zu ihrem Verhalten gezwungen, sei es physiologisch, etwa durch Sex, sei es per Abkürzung durch Tastendruck. Die Ratte ist somit definitiv nicht frei.

Das ist selbstverständlich nicht auf den Menschen übertragbar – bildet der sich ein. Der Mensch verfügt über einen freien Willen, so wähnt er weiter. Schließlich kann es nicht sein, dass er triebhaft ist, gar seinen Trieben ausgeliefert ist. Er, Homo sapiens, im Gegensatz zu rattus mit Seele ausgestatteter Gipfel der Schöpfung, Ebenbild Gottes.

Dieses Selbstbild ist hochgradig fragwürdig. Das Problem der Willensfreiheit ist ein philosophischer Dauerbrenner. Immanuel Kant war entschiedener Verfechter dieser Idee, viele moderne Philosophen, wie etwa Michael Schmidt-Salomon, verwerfen sie mit Nachdruck.

Ich tendiere zur Auffassung von Schmidt-Salomon, habe aber gleichwohl auch Schwierigkeiten damit. Es widerspricht meiner Intuition, Willensfreiheit als Trugbild anzuerkennen, ist sie doch so offensichtlich. Weiter: Wo keine Willensfreiheit, kein Verdienst, keine Schuld.

Zurück zur Ratte vor der Taste: Sie ist im extremen Maße unfrei. Sie muss die Taste drücken – und koste es ihr Leben. Und wir, die ach so überlegenen Menschen? Können wir uns von den Verlockungen der Anregung unseres Lustzentrums im Hirn lösen? Tatsächlich sind wir uns keineswegs immer sicher hinsichtlich unserer Motivation. Die Aussage: Ist eben so. ist insofern ehrlich. In diesem Zusammenhang gewinnen andere Abkürzungen zum Lustzentrum an Bedeutung, Rauschgifte nämlich. Diese sind fraglos suchterzeugend und schließen dann freien Willen aus.

Ist also die Anregung unseres Lustzentrums letztliche und zwingende Motivation unseres Handelns? Gaukelt uns der Drang zu dieser Befriedigung Willensfreiheit nur vor? Der Drogensüchtige behauptet, er könne jederzeit aufhören, glaubt das selbst. Dabei ist der Rausch nur eine Abkürzung zur Belohnung. Wie viel mehr Suchtpotential muss in der direkten Reizung liegen? Ist es korrekt, hier von Potenzial zu reden? Ist diese Sucht nicht vielmehr immanent? Müssen wir Sucht neu verstehen?

Besteht der eigentliche persönliche Sinn des Lebens schließlich in der Stimulation bestimmter Hirnregionen?

Diese Frage ist mehr als beunruhigend.