Diese Frage ist Bestandteil eines uralten Gleichnisses: Die blinden Männer und der Elefant. Die Quelle ist nicht bekannt. Es wird im Sufismus, Jainismus, Buddhismus und Hinduismus verwendet, um aufzuzeigen, dass das Bild von der Realität extrem von der Perspektive abhängig ist.
Es existieren unterschiedlich Versionen der Geschichte – hier ist die buddhistische verkürzt wiedergegeben:
Ein König befahl, Blindgeborenen einen Elefanten zu zeigen. Man zeigte einigen den Kopf, anderen das Ohr (, den Zahn, den Rüssel, den Rumpf, den Fuß, das Hinterteil, den Schwanz, das behaarte Schwanzende) des Elefanten und erklärte ihnen jeweils: So ist ein Elefant, ihr Blindgeborenen.
Der König fragte sie nun, wie ein Elefant sei.
Die, welche den Kopf des Elefanten untersucht hatten, sagten: Majestät; wie ein Kessel ist ein Elefant.
Die Untersucher des Ohres sagten: Er ist wie eine Worfel [Getreideschwinge].
Die weiteren Einschätzungen wurden so zugeordnet:
Zahn | – | Pflugschar |
Rüssel | – | Stange am Pfluge |
Rumpf | – | Kornspeicher |
Fuß | – | Pfeiler |
Hinterteil | – | Mörser |
Schwanz | – | Keule |
behaartes Schwanzende | – | Besen |
Und unter dem Geschrei: So ist ein Elefant, nicht so!
, wurden sie mit den Fäusten gegenseitig handgemein. Der König aber war darüber höchlichst ergötzt.
So weit zunächst die buddhistische Erzählung. Ich möchte sie noch etwas ausweiten und zu der beschriebenen Gesellschaft von Blindgeborenen noch Naturwissenschaftler einladen.
Es versammeln sich Biologen, Genetiker, Paläontologen (die erforschen Lebewesen vergangener Erdzeitalter). Auch diese untersuchen den Elefanten – jeder aus seinem Blickwinkel. Im Unterschied zu den Blindgeborenen aber entsteht kein Geschrei und schon gar nicht werden sie mit den Fäusten gegenseitig handgemein. Selbstverständlich setzen sie sich auch auseinander:
Biologe:
Elefanten fasse ich als Mitglieder der Familie der Rüsseltiere auf. Wie ich das sehe, gibt es derzeit noch drei Arten: den Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana), den Waldelefanten (Loxodonta cyclotis) und den Asiatischen Elefanten (Elephas maximus).
Paläontologe:
Das sehe ich auch so. Stammesgeschichtlich sind Elefanten eine relativ junge Familie der Rüsseltiere (Proboscidea). Die frühesten Rüsseltiere stammen aus dem Paläozän Nordafrikas und sind etwa 60 Millionen Jahre alt.
Biologe:
Vielen Dank, lieber Paläontologe. Deine Einschätzung ist ein weiterer Hinweis, dass meine Vermutung bezüglich der Elefanten-Systematik zutrifft.
Ich habe aber ein Problem: Einige meiner Fachkollegen sind der Meinung, dass es eine vierte Art gibt, nämlich den Zwergelefanten (Loxodonta pumilio). Kann mir jemand helfen?
Genetiker:
Ich habe das Erbgut des von dir gelieferten Materials untersucht. Ich kann nach heutiger Kenntnis ausschließen, dass es sich hier um eine vierte Art handelt.
Biologe:
Vielen Dank, lieber Genetiker! Deine Widerlegung der Theorie ist äußerst wertvoll. Sie warnt mich davor, in einer falschen Richtung weiter zu suchen.
Erlaube mir aber einen kollegialen Rat: Die Sache mit den Zwergelefanten stammt zwar von zweifelhaften Kryptozoologen. – Überprüfe das trotzdem noch mal.
Genetiker:
Selbstverständlich! Jede Unstimmigkeit ist Anlass, meine Methoden und Ergebnisse zu überprüfen.
Der Unterschied zwischen den Blindgeborenen und den Naturwissenschaftlern ist offensichtlich:
Die Blinden beharren auf ihrer Wahrnehmung als der einzig möglichen. Mit entsprechender Verbissenheit wird diese Auffassung verteidigt.
Der Buddha beschreibt das so:
Genau so verhält es sich mit den Wanderasketen verschiedener Richtungen. Blind und augenlos erkennen sie nicht, worauf es ankommt, sie erkennen nicht die Wahrheit. In Unkenntnis dessen schlagen und verletzen sich diese zänkischen, hadernden, in Streitrede geratenen Leute gegenseitig mit scharfen Worten: So ist die Wahrheit, nicht so.
Es streiten sich und geraten in Widerrede die Menschen, die (nur) einen Teil sehen.
Die Wissenschaftler dagegen sind bestrebt, ihre Aussagen zu überprüfen und überprüfen zu lassen. Dabei ist die Widerlegung einer Annahme mindestens genauso wertvoll wie eine Bestätigung. Deswegen formulieren sie ihre Aussagen bewusst so, dass sie überprüft werden können, sprechen also Klartext. Dass es wegen der Komplexität ihrer Forschung oft schwer ist, ihnen zu folgen, sei hier nicht bestritten. Und selbstverständlich gibt es unterschiedliche Meinungen, die auch durchaus energisch und sogar leidenschaftlich vertreten werden. Es kommt auch vor, dass unwissenschaftlich argumentiert wird, was allerdings regelmäßig einer Selbst-Disqualifikation des Streitenden gleichkommt.
Der Buddha hätte den Wanderasketen vielleicht besser nicht erwähnt. Schon erscheint einer in unserer Geschichte, mag er sich Priester, Rabbi, Schamane, Zeuge Jehovas, Kreationist oder sonst wie nennen, mag er wandern oder uns stationär auf die Nerven gehen.
Salbungsvoll und mit überlegen imaginiertem Lächeln erklärt er:
Ihr alle seht den Elefanten völlig falsch: Er ist ein heiliges Tier und stammt von Ganesha, dem Sohn Parvatis und ihrem Gemahl Shiva ab. Ganesha ist zuständig für: Reisen, Hochzeiten, Hausbauten, Geschäftsprüfungen, Klausuren, den Beginn eines neuen Tages, Poesie, Musik, Tanz, Schrift, Literatur, Wissenschaften und Handel.
Seine Miene verfinstert sich und er fährt fort:
So freundlich Ganesha auch ist: Wer ihn und seine Söhne nicht achtet, erfährt schreckliches Unglück. Er kann furchtbar zornig werden. Selbst der Mond musste das erfahren.
Etwas versöhnlicher erklärt unser Wanderasket:
Ihr könnt das alles mit eurer Sicht natürlich nicht erkennen. Ihr seid selbstverständlich beschränkt, wie das Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten anschaulich macht. Wie Blinde seid auch ihr gewöhnlichen Menschen in eurer Erkenntnisfähigkeit eingeschränkt, müsst eingeschränkt sein.
Euer Glück ist, dass ich euch mit meiner überlegenen Weltsicht führen kann. Ich weiß nicht nur über Ganesha und damit über Elefanten Bescheid, ich kann ihn auch besänftigen. Wer auf meine Weisungen – denn das sind die Ganeshas – hört, dem ist Glückseligkeit garantiert.
Und wieder drohend:
Wehe aber den Ungläubigen! Ihnen ist ewige Verdammnis gewiss!
Bei Typen wie dem Wanderasketen assoziiere ich regelmäßig die Ganzheitlichen
. Ihnen habe ich einen Exkurs gewidmet.
Die Bewertung des Weltbildes der Blinden scheint offensichtlich: Sie sind eben blind, ihre Perspektive daher eng begrenzt. Ihre Behinderung ist aber eine zweifache: Sie können erstens nicht nur nicht sehen, sondern sie sind sich zweitens ihres Mangels nicht bewusst. Sie meinen, im Besitz der absoluten – ganzheitlichen
– Wahrheit zu sein und verteidigen diese handgreiflich.
Auch die Wissenschaftler sind in ihrer Erkenntnisfähigkeit begrenzt – im Gegensatz zu den Blinden aber wissen sie darum. Dieses Wissen und die hieraus folgende Bereitschaft, das eigene Weltbild zu überprüfen, macht sie enorm erfolgreich.
Der Wanderasket / Priester / Rabbi / Schamane / Pharao / Zeuge Jehovas / Kreationist erkennt eine grundsätzliche Begrenztheit des menschlichen Horizonts ebenfalls an. Er selbst aber als Geistlicher, als Bevollmächtigter Ganeshas / Gottes / Allahs / des Fliegenden Spaghettimonsters habe den Durchblick, er schaue das Unschaubare, begreife das Unbegreifliche – ja, er sei in letzter Konsequenz selbst ein Spaghettimonster: Er habe doch immerhin die Macht, dieses durch den nur ihm eigenen Hokuspokus zu beeinflussen.
Was also ist ein Elefant? Sicher ist er nicht wie eine Worfel. Die Summe der Erkenntnisse der Naturwissenschaftler bietet ein umfassenderes Bild – es bleibt aber ein Bild, geprägt von den aktuellen Möglichkeiten der Erkenntnis. Diese gehen weit über den Tastsinn des Blinden hinaus; das ändert jedoch nichts an der prinzipiellen Begrenztheit.
Immanuel Kant beschäftigte sich mit dem Begriff Ding an sich. Er meinte damit etwas Seiendes
, beispielsweise einen Elefanten – unabhängig von einem Beobachter und dessen Begrenztheit. Schon Aristoteles hat sich mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt.
Fraglos gibt es ganz verschiedene Aspekte des Elefanten – auch solche, die der begrenzten menschlichen Erkenntnismöglichkeit verborgen bleiben. Theologen und manche Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von Transzendenz, vom Übersteigen
des Bereiches der möglichen sinnlichen Erfahrung.
Die Unerkennbarkeit des Elefanten an sich
verleitet nun gewisse Leute zu absurden Spekulationen, zum Beispiel über die göttliche
Herkunft dieses Tieres. Diese fantasierten Eigenschaften müssen mangels Nachprüfbarkeit blind geglaubt werden, denn jede Erkenntnis
in diese Richtung ist definitionsgemäß nicht möglich, da eben als transzendent
behauptet.
Die Erfahrung des Göttlichen
ist ein Wahn, der sich allerdings zu einem Massenwahn ausweiten kann, was dann Religion genannt wird.
Wie also soll man über die transzendenten Aspekte des Elefanten sprechen? Der Philosoph Ludwig Wittgenstein brachte es auf den Punkt:
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.