Exkurs:
Hyperthesen

Sonnengott Re
i

Ich möchte einen neuen Begriff einführen, den der Hyperthese. Hierzu muss ich etwas weiter ausholen:

Morgens erscheint die Sonne aus Richtung Osten und abends verschwindet sie im Westen. Das ist offensichtlich oder evident, um es mit einem Fremdwort zu benennen. Ebenfalls evident erscheint, dass die Sonne zwischen Auf- und Untergang über den Himmel wandert.

Diese Fakten ergeben sich aus Beobachtung. Hieraus können Schlussfolgerungen, Thesen abgeleitet werden. Zum Beispiel:

These 1: Morgen, übermorgen und auch in einem halben Jahr wird die Sonne aufgehen – und zwar an genau der gleichen Stelle im Osten, so, wie sie es seit Menschengedenken tut.

These 2: Re, der Sonnengott, fährt tagsüber mit der Sonnenbarke durch den Himmel. Am Abend steigt er in die Nachtbarke um und fährt durch das Totenreich. Am nächsten Morgen wird er bei Sonnenaufgang von seiner Mutter Nut wiedergeboren.
Als Sohn des Re haben sich übrigens immer wieder gern diverse Pharaonen erklärt, die damit freilich ebenfalls unersetzlich für den Fortgang des Weltgeschehens waren.

Die beiden Thesen unterscheiden sich grundlegend – und zwar in vielfacher Hinsicht.

Die erste These scheint im Verhältnis zur zweiten ausgesprochen simpel. Das wertet sie auf den ersten Blick ab, macht sie zur Hypo-These, zur Unter-Stellung, um das wörtlich zu übersetzen.

Die zweite These ist viel imposanter. Immerhin ist ein Gott involviert und – fast genauso bedeutend – der Pharao. Wir wollen das Hyper-These nennen.

Die so simpel erscheinende Hypo-These, die Unter-Stellung, hat einen enormen Vorteil: Sie ist überprüfbar und damit falsifizierbar. Das bedeutet, dass diese These sich durch die Überprüfung als falsch herausstellen kann. In unserem Beispiel ist das übrigens der Fall: Keineswegs geht die Sonne immer an genau der gleichen Stelle im Osten auf.

Diese Falsifizierung wird der verständige Sonnen-Forscher keineswegs als negativ oder gar als Angriff auf ihn persönlich sehen, sondern als Bereicherung. Aus den genauer betrachteten Daten des Sonnenauf- und Untergangs ergibt sich nämlich, dass das vermeintliche Faktum der Sonnenwanderung über die Erde gar keines ist. Die Himmelsmechanik funktioniert irgendwie anders.

Von ganz anderem Kaliber ist die Hyper-These vom Sonnengott Re. Diese These ist keineswegs simpel, sondern scheint höchst komplex – treffender gesagt: Sie ist verworren. Das macht sie unüberprüfbar, verhindert also eine Falsifizierung. Die Deutungshoheit liegt bei der Interessengemeinschaft Priester/Pharao. Diese Herrschaften profitieren erheblich und unmittelbar von der Hyper-These der Sonnenbarke. Damit sind sie an einer Überprüfbarkeit oder gar Falsifizierbarkeit nicht im Geringsten interessiert. Das gemeine Volk hingegen muss diese Geschichte ungeprüft schlucken. Der Profit ist für diese Gläubigen keineswegs unmittelbar, sondern wird, freilich wiederum nicht falsifizierbar, für die Zeit nach dem Tode verheißen.

Hypothesen sind übrigens ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit. Prof. Yuval Noah Harari datiert in seinem Buch Sapiens: A Brief History of Humankind (Eine kurze Geschichte der Menschheit) den Beginn der wissenschaftlichen Revolution vor etwa 500 Jahren. Er macht das an der unerhörten Erkenntnis fest, dass wir wissen, dass wir nichts wissen.

Vor dieser Wende war alles, was es im Universum zu wissen gab, vermeintlich bekannt. Unvorstellbar, dass wesentliche Fakten in den heiligen Schriften unerwähnt blieben, dass die jeweiligen Verfasser bestimmte Dinge gar nicht wussten oder gar eine falsche Vorstellung davon hatten! Deswegen bestand Forschung damals im Studium dieser Schriften. Um meine Terminologie zu benutzen: Das Wissen jener Zeit bestand im Wesentlichen aus Hyperthesen.

Dieses Wissen zu hinterfragen musste suspekt sein, zu anderen Erkenntnissen als zu den altehrwürdigen zu kommen, war anmaßende Blasphemie. Genau das taten zum Beispiel Galileo und schon 100 Jahre vorher Kopernikus (Kopernikanische Wende). Dabei waren sie alles andere als anmaßend. Sie ahnten, dass sie nichts wissen und forschten vorbehaltlos. Dabei kamen sie zu Ergebnissen, die den alten Ansichten, hier: dem geozentrischen Weltbild, widersprachen.

Die eigentliche Leistung dieser Männer war weniger diese an sich schon sensationelle Erkenntnis, sondern dass sie hieraus Hypothesen entwickelten, statt ihrerseits nun neue unumstößliche Dogmen, Hyperthesen eben, aufzustellen. Genau diese Haltung ist es, die Naturwissenschaft ausmacht und auf der die enorme Überlegenheit gegenüber religiösen und sonstigen Hyperthesen beruht.

Um es zusammenzufassen:

Intelligente Wesen neigen dazu, aus ihren Beobachtungen von Fakten Schlussfolgerungen zu ziehen, Thesen abzuleiten. Diese Thesen sind zunächst unbewiesen, bedürfen der Überprüfung.

Kritische Geister sehen in ihnen Hypothesen und prüfen auf Plausibilität, auf Evidenz. Sie tun das in der Hoffnung, durch Aufdeckung von Fehlern, durch Falsifizierung, weitere Erkenntnisse zu gewinnen.

Es werden aber auch Hyperthesen aufgestellt – eindeutig nicht mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns, sondern aus Machtinteressen. Solche Hyperthesen sind darauf ausgelegt, nicht falsifizierbar zu sein, denn Falsifizierung bedeutet Machtverlust für die wenigen Profiteure. – Für die mittels dieser Fantasieprodukte Betrogenen bedeutet die Entlarvung freilich einen enormen Gewinn.

Es ist zu hoffen, dass die Unterlegenheit der Hyperthesen entlarvt wird, bevor sie noch mehr Schaden in Köpfen und in der Welt anrichten, als ohnehin schon.