Es mag die Meinung aufkommen, dass die im vorherigen Kapitel genannten Beispiele nur besondere Gruppierungen der Christen betreffen, Sekten also. Dass diese Gruppen einen erheblichen Umfang und somit Bedeutung haben, wurde schon aufgezeigt.
Viele nordeuropäische Protestanten wähnen sich im vermeintlichen Unterschied dazu als besonders aufgeklärt – bis hin zum überheblichen Dünkel gegenüber Katholiken. Nicht zuletzt deswegen lohnt es sich, die protestantische Lichtgestalt näher zu betrachten, nämlich
Der evangelische Landesbischof Martin Sasse tat nach den Novemberpogromen Folgendes kund:
Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird […] die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. […] In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.
Der Führer
selbst 1923 über Luther:
Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung; er sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.
Lassen wir das Geburtstagskind vom 10. November selbst zu Wort kommen:
Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist’s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Wenn ich könnte, wo würde ich ihn [den Juden] niederstrecken und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren. Jawohl, sie halten uns [Christen] in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.
Luther hatte sehr dezidierte Vorstellungen, wie mit dem durchteufelten Ding umzugehen sei. Er verlangte:
Erstens, dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer ansteckt und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäuft und beschüttet, dass auf ewig kein Mensch mehr einen Stein oder Schlacke davon sieht. Und das soll man machen, um unseren Herrn und die Christenheit zu ehren und damit Gott sehe, dass wir Christen sind.
Zweitens, dass man auch ihre Häuser genau so zerbricht und zerstört, denn in ihnen treiben sie genau das gleiche, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür kann man sie zum Beispiel wie die Zigeuner unter einem Dach oder in einem Stall zusammenpferchen, damit sie begreifen, dass sie nicht die Herren in unserem Land sind.
Drittens, dass man ihnen alle ihre Betbüchlein und Schriften wegnimmt, weil darin Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird.
Viertens, dass man ihren Rabbinern bei Androhung der Todesstrafe verbietet, weiter zu lehren.
Fünftens, dass man die Juden unter Hausarrest stellt.
Sechstens, dass man ihnen Wucher verbietet und ihr Bargeld, Silber und Gold konfiziert.
Siebtens, dass man den jungen, starken Juden und Jüdinnen Dreschflegel, Axt, Hacke, Spaten, Spinnrocken und Spindel in die Hand gibt und sie ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts verdienen lässt.
Genau das haben die Nazis ja auch getan. Hitler war römisch-katholisch getauft und blieb zeitlebens Mitglied dieser Kirche. Trotzdem konnte er nicht umhin, die Galionsfigur des Protestantismus, Martin Luther, für seinen Antisemitismus zu preisen. Hitler erfuhr übrigens, wie viele andere totalitäre Verbrecher auch eine quasi-religiöse Verehrung.
Es stellt sich nun die Frage, wie die sich besonders aufgeklärt wähnende evangelische Kirche zu Luther stellt. Der Landesbischof Sasse wurde bereits als ein Beispiel für viele andere auch führende Geistliche angeführt, die dem Naziregime treu ergeben dienten, wohl wissend, dass sie über Leichen gingen. Es waren ja nur Juden
, wie Jesus freilich auch einer war. Zu der Rolle weiterer protestantischer Nazi-Bischöfe hier ein Exkurs.
Wie aber ist es heute? Wie bezieht die evangelische Kirche Stellung? Ich selbst habe im Religions- und Konfirmationsunterricht zwar einiges von Luther gehört, nie aber von seinem Antisemitismus.
Auch seine Einstellung zu behinderten Menschen wurde nicht thematisiert:
Wenn man aber von den teufelsähnlichen Kindern erzählt, von denen ich einige gesehen habe, so halte ich dafür, dass sie entweder vom Teufel entstellt, aber nicht von ihm gezeugt sind, oder dass es wahre Teufel sind.
Luther empfahl, man solle Wechselbälge und Kielkröppe ersäufen, da ein solches Kind lediglich ein vom Satan in die Wiege gelegtes Stück seelenloses Fleisch (massa carnis) war.
Auch die Einstellung des großen Reformators zu als Hexen diffamierten Frauen war eindeutig:
Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen […] Es ist ein gerechtes Gesetz, dass sie getötet werden. Sie richten viel Schaden an […] sie können auch ein Kind bezaubern, dass es fortwährend schreie und nicht mehr esse noch schlafe. Schaust du solche Weiber an, wirst du sehen, dass sie ein teuflisches Gesicht haben. Ich habe deren etliche gesehen […] man töte sie nur.
Nicht nur Hexen
und Zauberinnen
verachtete Luther. Seine Frauenfeindlichkeit war grundsätzlich und wird in vielen Zitaten deutlich. Da stand er dem lieben Jesulein in nichts nach. Schon Mädchen hielt er für minderwertig, setzte sie mit Unkraut gleich:
Unkraut wächst schnell, daher wachsen die Mädchen rascher als die Knaben.
All das wird von der evangelischen Kirche nicht oder nur äußerst verhalten thematisiert. Im Zusammenhang mit Luthers Antisemitismus wird viel mehr darauf hingewiesen, dass er persönlich schlechte Erfahrungen mit Juden gemacht habe. In früheren Zeiten sei er viel konzilianter gewesen. Und überhaupt:
Zudem hatte es in Böhmen jüdische Missionsversuche unter Christen gegeben, die dazu führten, dass Christen sich beschneiden ließen und den Sabbat feierten. … [Das lasse Luthers Äußerungen] … verständlicher erscheinen. [sic!]
Das Zitat stammt aus http://www.luther2017.de – verantwortlich: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Diese entlarvende Begründung
wurde inzwischen von der Site entfernt.
Luther war selbstverständlich Kind seiner Zeit. Die genannten Positionen waren weit verbreitet und der Reformator war dann doch nicht so groß, als dass er den Zeitgeist als menschenverachtend erkannte oder gar opponierte. Es ist aber keineswegs so, dass der Zeitgeist ihm seine Menschenverachtung zwingend diktierte: Luther hatte zunächst eine gemäßigte, fast liberale Haltung Juden gegenüber. Seinen mörderischen Antisemitismus entwickelte er später, beleidigt, weil die Juden sich nicht haben von ihm bekehren lassen. Das erhöht seine Schuld erheblich.
Nicht nur die zitierten Ansichten Luthers sind widerwärtig; auch seine Theologie ist geprägt von einem abstoßenden Antihumanismus. Ich erläutere das in einem Exkurs.
Luther selbst wäre nicht so wichtig, wenn er nicht von der Kirche und leider auch vielen Medien derartig glorifiziert werden würde. In den TV-Nachrichten des ARD und auch des ZDF wurde ausführlich über den Reformationstag 2017, eigens zum außerordentlichen Feiertag erklärt, berichtet – nicht ein Wort über Luthers Antisemitismus. Ich habe einen Leserbrief dazu verfasst – die Neue Osnabrücker Zeitung wagte es nicht, ihn zu veröffenlichen.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass Luther auch durchaus Richtiges in seiner bemerkenswerten Diktion zum Besten gegeben hat:
Die den Zölibat befürworten, denen sollte auch das Scheißen verboten werden.
Abschließend noch einige besonders bemerkenswerte Lutherzitate, die uns direkt zum Thema zurückbringen:
Die Vernunft ist die höchste Hur, die der Teufel hat.
Wer […] ein Christ sein will, der […] steche seiner Vernunft die Augen aus.
Die schwersten Anfechtungen sind, wenn der Teufel uns dahin bringt, dass wir nach den Ursachen des Wohlergehens und des Unglücks forschen […]
Das Warum
hat alle Heiligen gequält.
Mich selbst hat der Teufel zur Warum-Frage gebracht – und ich möchte, selbst keineswegs gequält, sondern dankbar, meine Leser diabolischer Weise zu dieser Sünde wider alle Heiligen verführen. Ich frage also: Warum dieser Dogmatismus?