Die Begriffe Moral
und Ethik
werden meist synonym verwendet. Insofern erscheint die Überschrift absurd. Um mein Statement zu begründen, ist eine klare Differenzierung dieser Vokabeln unabdingbar. Dieses Vorhaben bedarf trotz allen Bemühens um Prägnanz einer Menge Text. Ich meine, das angesichts der Bedeutung des Themas zumuten zu dürfen.
Der Duden definiert Moral als
Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden.
Somit differenziert der Duden nicht zwischen Moral und Ethik, nutzt beide Begriffe synonym, ähnlich auch Wikipedia.
Diese Definitionen sind natürlich nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss oder sonst absolut verbindlich. Ich schlage vor, die beiden Begriffe, Moral und Ethik, zu trennen, um einer größeren sprachlichen und damit gedanklichen Klarheit willen. Tatsächlich wird bereits im allgemeinen Sprachgebrauch gelegentlich deutlich differenziert, was aber nicht immer bewusst ist. So existieren beispielsweise Ethikkommissionen, meist mit medizinischem Hintergrund. Niemand käme auf die Idee, von einer medizinischen Moralkommission zu sprechen. Allein die Vorstellung löst Unbehagen aus.
Ärzte versuchen, verbindliche Grundsätze ihres Handelns im Sinne eines allgemeinen Konsens festzulegen. Das ist alles andere als einfach. Seit 1964 wurde die zugrunde liegende Deklaration von Helsinki neunmal revidiert. Wo liegt die Schwierigkeit? Man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Maximen einfach nur widerspruchsfrei sein, also der Logik entsprechen müssten. Das ist zwar eine notwendige Voraussetzung, leider aber keine hinreichende, um den Jargon der Aussagenlogik zu benutzen. Das bedeutet: Logik muss sein, reicht allein aber nicht. Näheres zur Logik habe ich in einem Exkurs ausgeführt.
Logik in diesem Sinne beschäftigt sich mit Verknüpfungen von Aussagen, legt fest, ob die hieraus resultierenden Schlüsse auf korrekte Weise zustande gekommen sind. Ganz wesentlich ist aber der Inhalt der zugrunde liegenden Aussagen, denn aus Unsinn kann man logisch korrekt
Unsinn schließen.
Auf die betrübliche Tatsache, dass wir die Welt nur mittelbar, nämlich über unsere Sinneseindrücke wahrnehmen können, werde ich noch ausführlich zurückkommen, indem ich die Frage kläre: Was ist ein Elefant?. Ich werde auch noch auf ein verwandtes Thema, das Ding an sich
, zu sprechen kommen. Was wir gemeinhin Fakten
nennen, ist also lediglich ein Bild, das uns durch unsere Sinne mehr oder weniger verzerrt projiziert wird. Bisweilen bilden diese Projektionen Dinge ab, die gar nicht existieren.
Hier geht es jedoch um die Wertung dieser an sich schon sehr subjektiven Eindrücke – ein höchst subjektives Unterfangen! Diese Wertung geschieht zunächst automatisch, wie ich schon erwähnte.
Man kann es kaum vermeiden, alles umgehend nach angenehm / unangenehm / gleichgültig einzuordnen und damit in der Regel auch nach dem Überleben zu- / abträglich. Das ist auch unbedingt notwendig, denn rasche Entscheidungen sind unter Umständen lebensrettend und damit ein evolutionärer Vorteil.
Ähnlich wie das optische Sehvermögen sich evolutionär entwickelte tat es auch die Optik
hinsichtlich Wertungen. Die Besonderheit der zweitgenannten Entwicklung ist jedoch deren Beschleunigung. Während die Architektur des Auges sich in Jahrmillionen entwickelte, ändern sich Bewertungen immer schneller, jetzt atemberaubend schnell.
Bleiben wir aber bei den Anfängen. Es ist durchaus von evolutionärem Vorteil, nicht nur unmittelbar zu bewerten (Die Beeren dieses Strauchs sind lecker / bitter.), sondern auch langfristige Folgen zu erwägen (Wenn ich jetzt hilfsbereit bin, könnte ich später davon profitieren.).
Genau dieses Verhalten, nämlich Hilfsbereitschaft, Solidarität, Mitgefühl lässt sich gut bei unseren nahen Verwandten, anderen Primaten, beobachten. Bonobos zum Beispiel sind ausgesprochen friedliche Zeitgenossen. Sie lösen ihre Konflikte in der Regel auf die einvernehmlichste Art, die überhaupt denkbar ist, nämlich mittels Sex. Sie kopulieren statt zu prügeln. Es sei nicht verschwiegen, dass Schimpansen eher anders herum verfahren. Sie liefern sich regelrechte Kriege.
Mehr noch als andere Primaten ist der Mensch in der Lage, seine Umgebung nicht nur wahrzunehmen und reflexhaft zu werten, sondern abzuwägen. Hierbei unterliegt er komplexen Mechanismen, angefangen von Vorgaben durch ererbten Instinkt bis hin zum bewussten Kalkül. Hieraus ergibt sich durchaus ein Handeln, das nicht ausschließlich die vordergründig eigenen Interessen, sondern die der anderen berücksichtigt. Der Mensch ist mehr noch als andere Tiere fähig, sich in andere Individuen hineinzuversetzen und deren Interessen zu erkennen. Diese gilt es nun mit den eigenen ins Verhältnis zu setzen und so einen Kompromiss zu finden.
Es ist auf Dauer sinnvoll, nicht kurzsichtig egoistisch zu handeln, den anderen nicht für einen vermeintlichen eigenen Sofortgewinn zu übervorteilen, denn man trifft sich häufig mehrmals und beim nächsten Treffen könnten die Chancen anders verteilt sein. Der Mensch ist sogar in der Lage, sich fair zu verhalten, wenn ein späteres Treffen ausgeschlossen ist.
Genau das, Fairness eben, ist, was Ethik ausmacht. Ethisches Verhalten bringt eigene und fremde Interessen in angemessener Wichtung in Einklang. Genau deswegen kann man sich selbst gegenüber nicht unethisch verhalten.
Was ist aber im Einzelnen der Unterschied zwischen Moral und Ethik? Ich möchte hier einen Vorschlag zur Differenzierung machen, indem ich Eigenheiten beider Begriffe kontrapunktisch gegenüberstelle. Jeder dieser Gegensätze ist eine Diskussion wert, die ich hier auch anschneide (Klick auf Symbol dazwischen).
Moral | ↔ | Ethik |
---|---|---|
gut und böse | fair und unfair | |
Gehorsam | Einsicht | |
Religion | Aufklärung | |
Strafe | Konsequenz | |
ewigeGültigkeit |
angemessene Varianz | |
Willkür | Nachvollziehbarkeit | |
Macht | Selbstbestimmung | |
Fazit |
Moral legt fest, was gut
und was böse
ist. – Ethik fragt dagegen nach fair und unfair. Das ist ein gewichtiger Unterschied. So kann Onanie, um ein griffiges Beispiel zu wählen, niemals unfair sein, ist also ethisch nicht zu beanstanden. Sehr wohl aber wird die abscheuliche Sünde der Selbstbefleckung
von nicht wenigen Pfaffen als böse
und damit als moralisch verwerflich gewertet.
Es ist offensichtlich, dass die Einforderung völliger sexueller Abstinenz nicht realistisch und damit nicht einhaltbar ist, dass die abscheuliche Sünde
also zwangsläufig begangen wird. Jener Seelsorger
, der hieraus folgende Schuldgefühle ja gezielt provoziert hat, ist nun auch zuständig für die Vergebung der erzwungenen Schuld
.
Vermeintlich schuldig in der willkürlich intrumentalisierbaren moralischen Hinsicht ist somit der Onanist. Tatsächlich schuldig hinsichtlich der rational nachvollziehbaren Ethik macht sich der Seelsorger
: Er sorgt für sachlich unbegründete Schuldgefühle, deren Entsorgung er zynischerweise ebenfalls bietet. Unfairer geht es kaum - das perfide psychische Verbrechen um die Erbsünde
vielleicht ausgenommen. Hier haben die Sünder
noch weniger Chance, der ekelhaft-verlogenen Gnade der Kirche zu entgehen.
In Sachen Sexualität stehen rationale Ethik und christliche Moral häufig in diametralem Gegensatz.
Ethische Prinzipien folgen, wie oben ausgeführt, Abwägungen hinsichtlich der Fairness. Selbstverständlich kann nicht vorgeschrieben werden, was fair und was unfair ist. Es bedarf also, ich wiederhole mich, einer Abwägung, aus der dann die entsprechende Einsicht folgt.
Sehr wohl vorgeschrieben ist die Differenzierung hinsichtlich gut
und böse
in Form von Ge- und Verboten. Diese sind nicht weiter zu hinterfragen, sind unkritisch zu befolgen. – Ihnen ist zu gehorchen.
Moral gehört eindeutig zur Domäne der Religion. Das wird schon im Begriff Religion
= rem ligere
= eine Sache binden
deutlich. Religion bindet ihre Abhängigen durch Schuldgefühle an Moral und die Absolution von dieser Schuld
bindet an die Religion. Dieser perfide Teufelskreis wird durch die Einsichten der Aufklärung durchbrochen. – Ein Prozess, der allerdings bei Weitem noch nicht beendet ist.
Das Diktat der Moral wird durch absurde Strafandrohungen bekräftigt. In besonders widerwärtiger Weise hat sich hier der Juniorchef hervorgetan, wie ich schon anmerkte. Aber auch dem Senior beliebt es bisweilen, sich als kleinkarierter, nicht minder grausamer Erbsenzähler hervorzutun.
Diese Strafen wurden nicht nur in Form des Höllenfeuers für das Jenseits angedroht, sondern durchaus schon auf Erden vollstreckt. Die Scheiterhaufen haben zwar ausgedient. Die Implantation von Angst und Gewissensqualen wird aber noch immer gewissenhaft
praktiziert.
Der Straf-Gedanke im Sinne der Vergeltung des Bösen ist noch immer präsent, auch in der sich weltlich wähnenden Justiz. Das allerdings wandelt sich in der moderneren Rechtsauffassung.
Die Problematik der Strafe ist umfassend und sprengt den Rahmen dieser Präsentation. Näheres findet sich im Buch von Schmidt-Salomon: Jenseits von gut und böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind.
Ethik dagegen bedarf der Strafandrohung nicht. Wer sich unfair verhält, wird entsprechend behandelt werden, wird also die Konsequenzen zu tragen haben. Diese Konsequenzen können im Ausmaß durchaus den Strafen im herkömmlichen Sinne entsprechen. Die Durchsetzung von Fairness aber ist ein prinzipiell anderer Ansatz als der der Vergeltung oder gar der Rache.
ewigeGültigkeit ↔ angemessene Varianz
Vorgegebene moralische Gesetze gelten, da göttlichen Ursprungs, ewig
und unbedingt – so die allgemeine Meinung. Das ist natürlich Unsinn. Als Beispiel sei das Tötungsverbot angeführt, wie im fünften Gebot fest
gelegt. Für den Chef selbst gilt das freilich nicht. Das alte Testament ist voll von grauenhaften Völkermorden, die auf Befehl Gottes und mit dessen Hilfe verbrochen wurden. Ein hübsches Beispiel für die sich wandelnde Moral sind auch Waffensegnungen, die seit dem 10. Jahrhundert üblich waren und mit den Reformen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) in der katholischen Kirche abgeschafft wurden. Das ändert aber nichts an der imaginierten Aura der Ewigkeit
moralischer Gesetze.
Ethik dagegen ist Sache der Einsicht – und Einsichten können sich unter Einfluss tatsächlicher Gegebenheiten ändern. Da entsprechen sie wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ja als Hypothesen auch immer vorläufig sind.
Ein alter und weit verbreiteter Grundsatz der praktischen Ethik lautet:
Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Dieses Prinzip, die goldene Regel
, findet sich seit Urzeiten in vielen Kulturen, so China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland. Das Sich-Hineinversetzen in die Lage Betroffener bedingt direkt nachvollziehbare Einsichten, die zu ethischem Handeln führen – wenn sie denn befolgt werden.
Moral dagegen, obwohl als ewig
fantasiert, folgt willkürlich wechselnden Interessen. Moral widersetzt sich nach Kräften einer sachlichen Überprüfung und ist somit eben nicht nachvollziehbar, was ihre vorgeblichen Prinzipien angeht. Die tatsächliche Intention allerdings ist offensichtlich: der Erhalt und die Mehrung kirchlicher Macht.
Moral dient dem Machterhalt. Der Gläubige muss aufgrund uneinhaltbarer moralischer Vorgaben schuldig
werden und ist damit auf die Absolution durch die Beschuldiger angewiesen. Eine wahrhaft perfide Praxis, die mit allem Nachdruck zu bekämpfen ist.
Ethik ist der Gegenpol zu Moral und gibt uns die Möglichkeit zu diesem Nachdruck. Das ist im Sinne der körperlichen und intellektuellen Selbstbestimmung unabdingbar.
Um der Fairness, der Einsicht, der Aufklärung, der Konsequenz, der angemessenen Varianz, der Nachvollziehbarkeit, der Selbstbestimmung willen: Moral und Ethik sind streng auseinander zu halten. Wo Moral der Ethik widerspricht, gebietet es die Ethik, unmoralisch zu sein, ja: Moral offensiv zu bekämpfen.
Manch ein Religiöser mag mangels oder wider besseren Wissens einwenden, dass die an sich untadelige Moral, wie sie etwa in der heiligen
Schrift dargelegt wird, bisweilen falsch verstanden und so pervertiert wurde. Ich habe dem untadeligen Aufschlitzen Schwangerer einen kurzen Exkurs gewidmet.
Pervers ist Moral in zweifacher Hinsicht:
Sie gibt erstens vor, absolut zu sein, also über jede Kritik erhaben, da göttlich
. Moralisten sind somit von einer Hybris absurden Ausmaßes bestimmt.
Hieraus ergibt sich zweitens der Missbrauch dieser absoluten Vorgaben. Gut
und böse
werden für Machtinteressen im Sinne der kirchlich angemaßten Deutungshoheit instrumentalisiert. Dabei wird Unfaires, ja: Unmenschliches gern als gut
deklariert. Ich zitierte im Abschnitt Warum dieser Dogmatismus? bereits Christopher Hitchens:
Gute Menschen tun Gutes, schlechte Menschen tun Schlechtes. Damit gute Menschen Schlechtes tun braucht es Religionen [und deren Moral].
Ethik ist so viel mehr wert als Moral. Genau genommen: Moral ist überhaupt nichts wert. Darum:
Sei un-moralisch,
ja, mehr noch:
sei anti-moralisch!